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Schwächster WM-Gastgeber aller Zeiten?

1. Juni 2018

Mit dem Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien gibt die russische Nationalelf den Startschuss für die Fußball-WM. Die Erwartungen der Fans und von Staatschef Wladimir Putin sind groß. Doch es droht eine herbe Enttäuschung.

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WM-Testspiel Russland gegen Brasilien | Stanislaw Tschertschessow
Bild: picture-alliance/dpa/L. Perenyi

Das Ziel ist klar. "Wir müssen ein richtig starker Gastgeber sein", erklärte Stanislaw Tschertschessow, der russische Nationaltrainer, vor Kurzem. "Wir können erst im Halbfinale oder Finale auf Deutschland treffen. Wenn wir so weit kommen, bin ich der glücklichste Mann der Welt." Das ist nachvollziehbar. Allerdings bedarf es schon sehr viel Fantasie, sich Russlands WM-Team in der Endphase des Turniers vorzustellen. Vielmehr dürfte schon die Vorrunde mit Saudi-Arabien, Ägypten und Uruguay zum echten Prüfstein werden. Angesichts der zuletzt gezeigten Leistungen gibt es sogar Stimmen, die die Mannschaft als schwächsten WM-Gastgeber aller Zeiten bezeichnen.

WM-Testspiel Russland gegen Brasilien
Machtlos in der Gegetorflut: Keeper AkinfejewBild: picture-alliance/dpa/L. Perenyi

Wie weit der Abstand zur Weltspitze ist, musste das Team in den letzten Testspielen erfahren. War das 0:1 (0:0) gegen ersatzgeschwächte Argentinier im Herbst noch knapp, setzte es im März gegen Brasilien ein glattes 0:3 (0:0) und gegen Frankreich eine ebenso klare 1:3 (0:1)-Niederlage. Am vergangenen Mittwoch folgte dann zum Abschluss des WM-Trainingslagers im Stubaital noch eine 0:1-Niederlage in Innsbruck gegen Österreich. Insgesamt sind es inzwischen sechs Spiele ohne Sieg für den 54-jährigen Tschertschessow und seine "Sbornaja". Der letzte WM-Test steht am kommenden Dienstag in Moskau gegen die Türkei an. 

Viele Baustellen für Tschertschessow

Angesichts der Probleme in seiner Mannschaft ist der Trainer nicht zu beneiden. Gleich drei seiner Leistungsträger fallen jeweils wegen Kreuzbandriss aus. Mit Georgi Dschikija und Wiktor Wassin fehlt die komplette Innenverteidigung. Im März verletzte sich zudem der 50-malige Nationalstürmer Alexander Kokorin bei seinem Einsatz für Zenit St. Petersburg gegen RB Leipzig. 

Negative Schlagzeilen machten auch zwei ehemalige Bundesliga-Profis: Anstatt dem russischen Team sportlich weiterzuhelfen, wurden Roman Neustädter und Konstantin Rausch nach der Brasilien-Klatsche bei einem nächtlichen Discobesuch erwischt und vom Verband bestraft. Die beiden in der Sowjetunion geborenen Profis, die als Spätaussiedler nach Deutschland kamen, haben die russische Staatsbürgerschaft angenommen und dürfen deshalb für die Sbornaja auflaufen. 

Insgesamt mangelt es Tschertschessows Mannschaft an Talent. Kein russischer Nationalspieler ist bei einem europäischen Topklub aktiv. Der Kader ist überaltert, Nachwuchs fehlt. Eine flächendeckende Talentsichtung und -förderung befindet sich erst im Aufbau. Darüber hinaus ist die Nachwuchsmisere eine Folge der noch bestehenden "Legionärsregelung" im russischen Ligafußball. Fünf russische Spieler pro Mannschaft sind gesetzt, müssen sich also nicht dem verschärften Konkurrenzkampf stellen. Eine Änderung soll erst nach dem WM-Turnier greifen.  

Auch der Blick in die Historie ernüchtert

Tschertschessow, ehemals Torhüter bei Dynamo Dresden, übernahm sein Amt nach dem enttäuschenden Abschneiden bei der EURO 2016 in Frankreich. Das russische Team musste als Gruppenletzter in der Vorrunde die Segel streichen. Ein Schicksal, dass Russlands Nationalelf bisher auch bei allen drei WM-Teilnahmen (1994, 2002, 2014) ereilte. Die einzige positive Überraschung war der vierte Platz bei der Europameisterschaft 2008. Das Vorgänger-Team der Sowjetunion feierte dagegen größere Erfolge. 1960 holte die Mannschaft der UdSSR den EM-Titel, sechs Jahre später den vierten Platz bei der WM 1966 in England. 1988 verlor man das EM-Endspiel gegen die Niederlande.

WM-Testspiel Russland gegen Brasilien
Chancenlos gegen Brasilien: Russlands Mittelfeldspieler GluschakowBild: picture-alliance/dpa/L. Perenyi

Angesichts der schwierigen aktuellen Situation tendiert Tschertschessow zu einer defensiven Taktik, die ihm eigentlich missfällt. Er gilt eher als Verfechter des offensiven Spiels und ließ sein Team schon wiederholt mit drei Stürmern agieren. Nach der Niederlage gegen Frankreich sagte er jedoch: "Gegen Brasilien haben wir in der zweiten Hälfte offensiv gespielt - und drei Tore kassiert. Diesmal haben wir von Beginn an offensiv gespielt - und drei Tore kassiert. Das zeigt, dass wir Probleme bekommen, wenn wir gegen solche Gegner offensiv spielen." Er will für das WM-Turnier die Abwehr stärken.

Ob ihm das seinen Job rettet? Seit 1992 gab es insgesamt neun Nationaltrainer, von denen außer Oleg Romanzew keiner länger als zwei Jahre im Amt war. Scheidet das russische Team als Gastgeber in der Vorrunde aus, käme dies nicht überraschend. Es wäre allerdings auch keine Premiere. Schon 2010 war für WM-Gastgeber Südafrika nach nur drei Spielen Schluss.

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Jens Krepela Redakteur, Reporter, Autor