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Russlands Schattenwirtschaft boomt

Juri Rescheto Studio Moskau
27. November 2016

Schätzungsweise vierzig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind in der so genannten Garagenwirtschaft beschäftigt. Juri Rescheto traf illegale Handwerker in Naberezhnye Tschelny.

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Russland Garagenwirtschaft
Bild: DW/S. Gudkov

Prösterchen! Seinen ersten Wodka kippt "Marat", dessen wahren Namen wir lieber nicht nennen sollen, schon am Nachmittag. Dann geht´s auch geschmeidiger mit dem Schleifen von Natursteinen. Marat stellt daraus Figuren her. Souveniers. Handarbeit. Wertvolle Handarbeit. Illegal. "Für wichtige Kunden, die zahlen", stellt der Steineschleifer stolz fest.

Sein Reich ist drei Meter breit und sechs Meter lang. Standard-Maße einer alten sowjetischen Garagen-Box. Eigentlich zum Abstellen eines eigenen Autos. Doch Marat hat keines. So wie viele seiner Nachbarn hier, in den mehr als zweitausend Boxen der Garagen-Kooperative "Grenada" mitten in der 500.000-Einwohner-Stadt Naberezhnye Tschelny in der russischen Teilrepublik Tatarstan am Fluss Kama.

Russland Garagenwirtschaft
Polsterarbeiten aller Art - Garagen-Box ist zugleich WerkstattBild: DW/S. Gudkov

Wilder Kapitalismus

Die Hälfte dieser halben Million trifft sich hier, in "Grenada", die männliche Hälfte. Denn seit dem Einzug der Privatwirtschaft in Russland wuchert hier der wilde Kapitalismus nach dem Motto: "Was hinter meiner Tür passiert, geht den Staat nichts an!"

"Ich bin als Kleinunternehmer gemeldet und arbeite legal", behauptet Meister Waleri, der Nachbar von Marat. Er hat gleich zwei Boxen gemietet und beschäftigt einen Gehilfen. Der Gehilfe bringt grade einen alten Sowjetschlitten auf Vordermann.

Kleinunternehmer der besonderen Art

Meister "Waleri" ist aber vielseitig. Im Keller seiner Garage bietet er unter anderem Polsterarbeiten aller Art. Legal, wie gesagt - wie man eben legal ohne Quittung und gegen Bares arbeiten kann. Und wohl auch deshalb will er seine Identität nicht preis geben.

"Die Kunden kommen zu mir, weil sie es gemütlich mögen. Ohne viel Aufsehen. Und weil niemand außer mir ihre Wünsche erfüllen kann. Zumindest zu den Preisen, die ich biete."

Russland Garagenwirtschaft
Russisches "Gewerbegebiet" - die Garagen von Nabereznye TschelnyBild: DW/S. Gudkov

Das ist es, was die so genannten Garaschniki, Mieter oder Inhaber der Garagen also, hierher lockt. Und ihre Kunden. Gemütlich und ohne Aufsehen. Gemütlich, weil es in kaum einer Box nach Benzin stinkt, weil in kaum einer Box wiederum überhaupt ein Auto steht. Ohne Aufsehen, weil alle wissen, was in den Garagen abgeht, aber keiner darüber laut spricht.

"Ich brauche sonst nichts!" sagt Waleri. "Selbst wenn ich eines Tages ein alter Furzer bin und nur noch irgendwelche Pantoffeln schneidern muss. Einer wird sie schon kaufen. Oder mir wenigstens eine Flasche Milch dafür geben. Zum Überleben."

Millionenheer der Garagenarbeiter

Dreißig Millionen Russen verdienen ihr Geld ganz oder teilweise in den Garagen. Als Automechaniker, Schneider, Lackierer, Möbeldesigner, Zahnärzte, Klavierstimmer, ja es gibt sogar Anwälte, die sich ihre Büros hier einrichten, Zentralheizung inklusive!

Und das alles am Staat vorbei. Die Garaschniki wollen nicht ihr Einkommen mit dem Finanzamt teilen. "Warum auch?" - fragt sich "Boris". Er hat dreißig Jahre beim großen russischen Autohersteller "Kamaz", dem offiziellen Hauptarbeitgeber in Nabereznye Tschelny, geschuftet, "für einen mickrigen Lohn, den man nur symbolisch nennen kann. Dann habe ich den Job geschmissen und bin seitdem mein eigener Chef hier. Natürlich nicht offiziell, weil mir jeder Kontakt mit den Behörden zuwider ist. Die sind selbst korrupt und wollen nur geschmiert werden. Da mache ich nicht mit".

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Eigene Welt mit eigenen Gesetzen: Näherei und MöbelproduktionBild: DW/S. Gudkov

Dschungel der Bürokraten

Selbst wenn einer ehrlich sein wollte und sein Gewerbe offiziell anmelden würde, hätte er mit einem undurchsichtigen bürokratischen Dschungel zu kämpfen, weil russische Gesetze alles andere als wirtschaftsliberal sind. Das hat sogar Präsident Putin erkannt und seine "Rechtsidioten", wie er sich einmal ausgedrückt hat, angeordnet, die Gesetze zu vereinfachen.

Die resolute Ekaterina Ermakowa, Vorsitzende von "Grenada" und als einzige Frau die Chefin der Kooperative (Szenename: "Katharina die Große"), sagt es so: "Hierher kommt jeder mit seinen eigenen Problemen. Denn das hier ist eine eigene Welt mit ihren eigenen Gesetzen. Selbst wenn einer von ihnen jetzt auf einmal ehrlich sein wollte und sein Gewerbe anmelden würde, müsste er so viel mehr an Miete zahlen, so viel mehr an Steuern, so viele Prüfungen über sich ergehen lassen, von Naturschutz bis Brandschutz, so viel Stress also, dass sein Betrieb das nicht überleben würde. Darum sind sie hier alle ruhig." Gemütlich also. Ohne viel Aufsehen.

Milliarden am Staat vorbei

Ob Präsident Putin mit der Vereinfachung der Wirtschaftsgesetze allein die Schattenwirtschaft in seinem Land los wird, ist mehr als fraglich. Nochmals "Katharina die Große": "Soll doch Putin erstmal seine Beamten zwingen, selbst Steuern zu zahlen. Wenn sie ihre Steuern zahlen würden, dann würden auch meine Jungs hier alle legal arbeiten."

Ein Teufelskreis, den die Behörden bislang nicht brechen können: Bürger betrügen den Staat, weil - wie sie sagen - sie sonst vom Staat betrogen werden. Nicht nur in Nabereznye Tschelny fließen Milliarden von Rubeln deswegen am Staat vorbei. Was den Russen wirklich fehlt, ist das Vertrauen in ihren eigenen Staat.