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Sachliche Begegnung mit dem Tod

6. November 2003

Wieder ein Film von Patrice Chéreau, der weh tut: "Sein Bruder" läuft jetzt in den Kinos an. Er erzählt von zwei Brüdern, von denen einer todkrank ist. Ein kitschfreier Film über das Sterben.

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Patrice Chéreau stellt seinen neuen Film vorBild: dpa

Thomas (Bruno Todeschini) hat eine unheilbare Blutkrankheit. Nach einem schweren Rückfall, der ihn für längere Zeit ins Krankenhaus bringt, bittet er seinen jüngeren Bruder Luc (Eric Caravaca) um Hilfe. Die beiden sehr verschiedenen Brüder hatten längere Zeit keinen Kontakt mehr und kommen sich nun wieder näher. Während die Freundin von Thomas in hilfloser Verzweiflung verharrt, trennt sich der homosexuelle Luc von seinem Liebhaber. Als Thomas den schweren Kampf gegen seine Krankheit aufgibt, ist Luc sein einziger Begleiter.

Das ist die Handlung von "Sein Bruder" (Son frère) - ein Film, für den der französische Regisseur Patrice Chéreau bei den Filmfestspielen in Berlin den Silbernen Bären für die Beste Regie bekam. Wie schon mit seinem Erotikdrama "Intimacy" (2001 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet) geht der französische Regie-Star Tabus an: das Sterben, die Schwierigkeit, mit dem Dahinsiechen eines geliebten Menschen fertig zu werden.

Die Liebe kommt erst, als es zu spät ist

Filme von Patrice Chéreau sind immer auch Filme über Patrice Chéreau. Der Regisseur, der am 2. November 2003 seinen 60. Geburtstag feierte, beantwortet eine entsprechende Frage kurz und knapp: "Das ist auch diesmal so. Ich war selbst ein jüngerer Bruder. Und das ist nicht nur in der Kindheit eine besondere Situation. Also sollte ich wohl sagen: Ich bin ein jüngerer Bruder."

Der Film spricht ein Thema an, das jeder kennt: Oft erst, wenn es zu spät ist, ist Liebe möglich. Der homosexuelle Luc und sein jüngerer Bruder Thomas müssen das schmerzlich erfahren. "Was mich besonders interessiert hat, ist die Wandlung des älteren Bruders, der plötzlich erkennen muss, dass er nicht so stark ist, wie er bisher glaubte. Das ist eine fürchterliche Entdeckung für einen Menschen", erläutert Patrice Chéreau.

Sterben am Ort des Lebens

Der Film spiegelt das in geradezu schockierend schonungslosen Sequenzen. Das ist nicht immer leicht auszuhalten - bei einigen Vorführungen flohen Zuschauer aus dem Kino. "Aber was kann ich tun?" fragt Chéreau. "Die Leute haben Angst vorm Krankenhaus, haben Angst vor allem."

Doch wer sich dem Film hingeben kann, bekommt, was das Kino nur äußerst selten geben kann: Mut zum Leben. Viele Szenen spielen im Krankenhaus, wo Thomas aufwändigen Behandlungen unterzogen wird, dabei aber mehr und mehr an Kraft und Hoffnung verliert. Die in minutenlangen Einstellungen dokumentierten Prozeduren zwingen den Zuschauer zum Hinsehen. Chéreau sagt zu diesen Sequenzen: "Als wir in einem wirklichen Krankenhaus gedreht haben, habe ich verstanden, das dies nicht allein, wie ich bisher dachte, ein Ort des Leidens und Sterbens ist. Es ist vor allem ein Ort des Lebens."

Kein Kitsch, sondern Beobachtung

Tröstlich ist das allerdings nicht. Chéreau seziert geradezu die Verzweiflung sämtlicher Beteiligter und beobachtet das langsame Verlöschen allen Lebensmutes. Die sehr bewegliche Handkamera rückt oft nah an die Körper heran, untersucht die Gesichter der Brüder, analysiert ihre unsicheren Blicke. "Sein Bruder" wurde offenkundig schnell gedreht und wirkt zuweilen sogar wie improvisiert.

Gleichwohl bleibt der Blick auf ausgezehrte Körper im Krankenhaus stets ernst. Kitsch hat dabei keine Chance. Es wimmern keine Geigen, fließen keine Tänenströme. Nahezu sachlich wird die Geschichte ausgebreitet. Ein Report vom Sterben - als Hommage an das Leben. (reh)