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Savants

Gudrun Heise1. April 2015

Sie möchten wissen, welcher Wochentag der 5. April 1583 war? George Widener würde es wissen - und zwar auswendig. Er ist ein Savant.

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Tafel mit Zahlen und Formeln (Foto: Colourbox/Abbyasov Alexey).
Bild: Colourbox/Abbyasov Alexey

Savants sind Menschen mit einer Inselbegabung. Das heißt: Sie haben besondere Fähigkeiten auf einem Gebiet. Meist sind es die Bildenden Künste, die Mathematik oder auch die Musik, bei denen Savants außergewöhnliche Leistungen bringen, so wie Matt Savage. Mit sechs Jahren bringt er sich quasi über Nacht Klavierspielen bei. Er beginnt Jazz-Stücke zu komponieren und verblüfft mit seiner ungewöhnlich großen Begabung selbst Jazzlegenden wie Chick Corea. In der Musik ist er brillant, aber im Umgang mit seinen Mitmenschen hat er große Schwierigkeiten. Schon früh stellt ein Arzt die Diagnose: Matt ist Autist.

Nicht alle Autisten sind Savants

Hirnscans bei Autisten haben gezeigt, dass es bei ihnen in den Hirnregionen, die für Gefühle und die Verarbeitung von Sprache zuständig sind, wenig Aktivität gibt. Auch die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, ist bei Autisten oft gestört. Wenn es jedoch um Objekte geht oder darum, Systeme zu erkennen, ist die Hirnaktivität besonders hoch. Einige Autisten verfügten über sogenannte Spartenfähigkeiten, erklärt Thorsten Fehr vom Zentrum für Kognitionswissenschaften in Bremen. "Auf der einen Seite sind es sehr individuelle Fähigkeiten, die in einer solchen Sparte ausgebildet wurden. Auf der anderen Seite haben wir es gerade bei Savants auch immer mit Defiziten zu tun, mit Handicaps, mit geistigen Behinderungen." Das gehöre bei diesem Personenkreis zur Definition dazu.

Stadtansichten aus dem Gedächtnis

Auch der Londoner Stephen Wiltshire hat eine Inselbegabung. Er hat den Beinamen "die lebende Kamera". Für einen Dokumentarfilm flog er 45 Minuten mit einem Hubschrauber über Rom. Danach zeichnete er die Stadt am Tiber aus dem Gedächtnis als detailgetreues Luftbild-Panorama auf eine Fläche von insgesamt fünf Metern Länge. Jedes Fenster, jeder Pfosten auf dieser Zeichnung entsprechen der Realität. "In dem Fall würden wir tatsächlich von einem Kunst- oder Reproduktions-Savant sprechen", so Fehr. "Was wir bei Stephen Wiltshire mit Sicherheit annehmen können ist, dass er gerade in den hinteren Hirnbereichen eine ganz besondere Fähigkeit entwickelt hat, visuelle Inhalte abzuspeichern. Und das Abspeichern von bestimmten Informationen ist eine der herausragenden Stärken der meisten Savants."

Der Künstler Stephen Wiltshire (Foto: Lisa Maree Williams/Getty Images).
Die Bilder des Savants Stephen Wiltshire zeigen detailgetreue StadtansichtenBild: Williams/Getty Images

Weltweit sind rund 100 Savants bekannt. Die eine Hälfte von ihnen ist autistisch veranlagt, bei der anderen Hälfte können unter anderem auch neurophysiologische Hirnerkrankungen oder ein Schädel-Hirn-Trauma eine Rolle spielen. Was genau hinter den außergewöhnlichen Gehirnleistungen steckt, versuchen Forscher schon seit Jahren herauszufinden. Eine der prominentesten Theorien sei die sogenannte paradoxe Fazilitation, sagt Fehr. "Stellen Sie sich vor, Sie haben ein System, bei dem es ein Problem gibt, weil es nicht richtig funktioniert. Dafür kann ein anderer Teil dieses Systems sozusagen in den Vordergrund gelangen und dann möglicherweise besondere Begabungen hervorbringen."

Rain Man

Einer der bekanntesten Savants war Kim Peek aus Salt Lake City in den USA. Er war in der Lage, historische Jahreszahlen, den Kalender, die Telefonvorwahlen der USA oder auch ganze Bücher in seinem Gehirn zu speichern - wie auf der Festplatte eines Computers. Er konnte zwei Seiten gleichzeitig lesen: eine Seite mit dem linken, die andere mit dem rechten Auge. Für acht Seiten brauchte er 53 Sekunden und speicherte alles ab. Der Inhalt von 12.000 Büchern war in seinem Gehirn. Bei Bedarf konnte der im Jahr 2009 Verstorbene all diese Informationen abrufen. Aber im Alltag war Peek vollkommen hilflos, konnte sich nicht alleine anziehen oder sich etwas zu Essen machen.

Kim Peek 2007 (Foto: http://de.wikipedia.org/wiki/Kim_Peek#/media/File:Kim_Peek_on_Jan_16,_2007.png).
Kim Peek hatte 12.000 Bücher in seinem Gehirn gespeichertBild: cc-by-Dmadeo

Als er auf die Welt kam, war sein Kopf um ein Drittel größer als bei einem Durchschnittsbaby. "Kim Peek hatte eine zerebrale, also eine gehirnbezogene, Besonderheit. Bei ihm gab es keine reguläre Trennung der Hemisphären", erläutert Fehr. "Und das ist ein ganz, ganz seltenes Phänomen. Wir müssen spekulieren, dass diese ungewöhnliche Vernetzung der beiden Hirnbereiche auch damit zusammenhängt, dass er riesige Mengen an Informationen speichern konnte."

Kim Peek lieferte die Vorlage für den Film "Rain Man" mit Dustin Hoffman, der den autistischen Raymond Babitt spielt. Auch er ein Savant. In dem Film aus dem Jahr 1988 lernt der Protagonist nicht nur ganze Telefonbücher auswendig, er löst auch komplizierte Rechenaufgaben in Bruchteilen von Sekunden. Genau wie Peek hat auch die Figur im Film erhebliche Defizite. Raymond ist geistig behindert und ein typischer Savant. Der Film hat das Thema "Autismus" Ende der 80er Jahre in die breite Öffentlichkeit gebracht und auf das Phänomen der Savants aufmerksam gemacht.

Dustin Hoffman Rain Man (Foto: N.N.).
Im Film "Rain Man" spielt Dustin Hoffman den autistischen RaymondBild: picture-alliance/dpa

Savant oder Experte?

George Widener galt als Kind als verhaltensauffällig. Er hatte Probleme, mit anderen zu kommunizieren. 2000 kam die Diagnose: Asperger Syndrom, eine Form von Autismus. Wideners Inselbegabung ist das Kalenderrechnen. So kann er jedem beliebigen Datum den genauen Wochentag zuordnen und das über einen extrem langen Zeitraum. 'Welcher Wochentag war der 12. April 1312?' George Widener wisse es, so Fehr. "Er ist eindeutig ein Savant." Bei ihm geht die Inselbegabung Hand in Hand mit einem mentalen Handicap, mit einer geistigen Behinderung.

Fehr hat mit George Widener gearbeitet und ihn intensiv untersucht. "Und da konnten wir genau sehen, dass gerade in den hinteren Hirnbereichen, unter anderem auch im Kleinhirn, Aktivierungen zu sehen waren. Sie waren anders als bei dem deutschen Rechenkünstler Rüdiger Gamm. Fehr hat die beiden miteinander verglichen. Gamm ist in der Lage, in sekundenschnelle Potenzen zu errechnen und in schier unendliche Zahlenreihen umzusetzen. Die meisten Menschen kennen wohl nicht einmal die Bezeichnungen für diese Zahlen.

"Wie viel ist 73 hoch 12?" fragt der Moderator einer Fernsehshow. Wie aus der Pistole geschossen, kommt die Antwort von Rüdiger Gamm: 282 288 975 128 239 507 545 882 230 784, also 282 Quadrilliarden, 288 Quadrillionen, 975 Trilliarden, 128 Trillionen, 239 Billiarden, 507 Billionen, 545 Milliarden, 882 Millionen, 230 Tausend, 784.

Dennoch gilt Gamm nicht als Savant. "Savants sind nicht in der Lage, ihr Leben selbst zu organisieren", erklärt Fehr. Rüdiger Gamm hingegen lebe ganz normal und unauffällig. "Aber er ist eben exzentrisch, aber eben nicht behindert. Das ist ein gravierender Unterschied." Gamm nutzt sein Gedächtnis sehr effizient. Kalenderdaten errechnet er vor allem nach bestimmten Algorithmen, also nach einem bestimmten Regelsystem. George Widener hingegen lernt sie auswendig. Er verknüpfe sie mit dem Wissen aus dem Kunst- und dem Historienbereich, erklärt Fehr. "Er zeichnet und malt auch Bilder dazu. Beide, Widener und Gamm, bringen die gleiche Leistung auf sehr, sehr hohem Niveau, aber sie verfolgen mental vollkommen unterschiedliche Wege, um zu den gleichen Ergebnissen zu kommen."

Zu den Ergebnissen, die Rüdiger Gamm auch noch vorweisen kann, gehört auch eine ganz spezielle Art des Lesens: snesel sed tra elleizeps znag enie - Er kann es auch rückwärts.