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Popkultur und Religion

10. März 2010

Jerusalem, Freitagnachmittag: alles ist geschlossen, Busse fahren nicht mehr, die Stadt erstarrt in der Schabbatruhe. Doch die Jugend ist hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne, Religion und Partylaune.

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Club in Jerusalem, Foto: Heller
Freitagnacht in Jerusalem: Nicht überall herrscht religiöse AndachtBild: DW

Der selbsternannte "letzte Linke Jerusalems", Kostya, lehnt an der Bar im "HaKaze". Es ist Freitagnacht – und in dem kleinen Club etwas abseits des Jerusalemer Ausgehviertels ist es brechend voll: Indie-Publikum, Partyvolk und Touristen drängeln zwischen Tresen und Tischen, von der Bühne rotzt die Grunge-Band "Inga Dingo" ihre Texte ins Publikum. "Ich liebe die Jerusalemer Underground-Clubszene", sagt Kostya. "Es gibt zwar nur ein paar Clubs in hier, aber die sind richtig gut. Und es werden auch immer mehr."

"Was immer Du vorhast – tu es jetzt!"

Die israelische Sängerin Louisa Kahn, Quelle: Poison
'Lebe jetzt' ist das Motto vieler junger IsraelisBild: Terry Poison

Traditionell gehöre der Freitagabend ja der Familie, erklärt der Pharmaziestudent, da beginnt Schabbat und man trifft sich zum gemeinsamen Essen. Arbeit ist tabu an diesem Abend, streng Religiöse benutzen keine elektrischen Geräte, keine Handys und sollen kein Geld in den Händen halten. Aber: junge säkulare Israelis wie ihn interessiere das alles nicht besonders, sagt Kostya. Am Freitagabend wolle er Spaß haben und Party machen, mit allem Drum und Dran – egal, ob religiöse und orthodoxe Juden das am Schabbat anstößig finden oder nicht.

Was für Kostya selbstverständlich ist, ist für Jonathan jedes Mal ein kleines Abenteuer: Mit seiner dunklen Stoffhose, mit Hemd, Strickjacke und Kippa fällt er auf inmitten des lässigen HaKaze-Publikums. Er sei orthodoxer Jude, erzählt er, und lebe mit seinen Eltern in einem religiösen Viertel Jerusalems. Wenn er Lust auf Party habe – und das habe er oft – dann schleiche er sich nach dem Familienessen heimlich aus dem Viertel. Er verstecke die langen Schläfenlocken unter der Kippa, ziehe durch die Clubs und spreche Mädchen an. Ansonsten gebe es in seinen Kreisen ja nur die arrangierte Heirat, sagt er.

Orthodoxe Juden, Foto: ap
Mit Sonnenuntergang bricht am Freitagnachmittag der Schabbat in Israel an: Geschäfte schließen, Busse fahren nicht mehr und Jerusalem erstarrt in religiöser Andacht.Bild: AP

"Wenn Du in Israel lebst, dann wirst Du einfach jeden Tag daran erinnert, dass Du sterben wirst", beschreibt Louisa Kahn, die sehr schräge und sehr blonde Sängerin der israelischen Electroclash-Girlband "Terry Poison" das Lebensgefühl von jungen Israelis: Die mit Religion und jüdischen Traditionen entweder nichts mehr am Hut haben – oder die lieber den Bruch mit der Familie riskieren, als sich streng dran zu halten. Die Leute, für deren Leben Louisa mit ihrer Band und ihrem urbanen, schräg-schnellen Elektrosound derzeit den Soundtrack liefert. "Du kommst an einem Zeitungskiosk vorbei und in den Schlagzeilen geht es immer um jemanden, der Dich bedroht oder um eine Bombe oder solche Sachen. Das ganze Thema von 'Leben und Tod' ist einfach sehr präsent. Und deswegen gibt es dieses Bewusstsein, dass wir alle ganz genau jetzt leben. Alles, was Du vorhast – Du musst es genau jetzt tun."

"Musik ist die Sprache Gottes!"

Chilik Frank, Konzert mit traditionellen Musikern, Foto: Heller
Am Schabbat in die Disko: für Chilik Frank unvorstellbarBild: DW

Freitagnachmittag in Jerusalem: Der Schabbat hat gerade begonnen. Orthodoxe Juden eilen in Richtung Klagemauer, in schwarzen Mänteln, schwarzen Hosen, schwarzen Hüten. Unter ihnen ist auch Chilik Frank. Er ist 29, chassidischer Jude und einer der gefragtesten Klezmer-Klarinettisten Israels. Für ihn, sagt er, sei es unvorstellbar, den Schabbat-Abend in einer Bar oder einem Club zu verbringen – oder überhaupt an irgendeinem Ort, an dem Rock oder Reggae, Pop oder Punk läuft. Rockmusik, sagt er auf Jiddisch, mache junge Menschen schlecht: "Die Musik von die Chassidim dagegen, is a Sprach’ von Gott: Werd’ gute Mensch, werd’ gut!" Zum Schabbat-Abend gehöre für ihn deshalb traditionelle, jüdische Musik, um Gott zu spüren – oder gar keine.

Auch für Daniel Zamir, 29, käme nie in Frage, am Freitagabend etwas anderes als Schabbat zu feiern. In einem Club, sagt er, bestünde beispielsweise die Möglichkeit, dass dort eine Frau auf der Bühne steht und vor Publikum singt. Ein Tabu für orthodoxe Juden wie ihn: "Im orthodoxen Judentum wird den Frauen ein höheres spirituelles Niveau zugesprochen als Männern", erklärt er, "eine weibliche Stimme ist sehr spirituell, sie kann manipulieren. Deswegen ist es nach strenger jüdischer Tradition problematisch, dem Gesang von Frauen zuzuhören. Ich kann mir das im Radio anhören oder von CD. Aber live – eher nicht."

Shabbat Night und Shabbat Night Fever

'The Lab' Musikclub in Jerusalem, Foto: Heller
Trotz Schabbat haben einige Clubs in Jerusalem geöffnetBild: DW

Schabbat-Abend in Jerusalem, Musikclub "The Lab". Hier läuft entspannter Reggae – und viele, die hierher kommen, wollen beides: ihre Traditionen leben und trotzdem Spaß haben – und religiöse Musik hören, die trotzdem auf der Höhe der Zeit ist. Shabbat Night und Shabbat Night Fever, sagt Rinat Gutman, 25, lange schwarze Haare, schwarzes, enges T-Shirt, Jeans. Sie sei zum Beispiel orthodoxe Jüdin und Rapperin sei sie trotzdem. Mit religiösen Texten und Erlaubnis vom Rabbi: "Ich habe ihm erzählt, dass ich rappe – und rappen ist ja nicht singen. Es ist rhythmisches Sprechen. Damit war er einverstanden."

Autorin: Lydia Heller

Redaktion. Ina Rottscheidt