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Scheindebatte

Rainer Sollich3. September 2003

Bundeskanzler Schröder ist dafür, viele Politiker der Opposition jedoch nicht: Soll - oder besser - darf die Türkei der EU beitreten oder nicht? Rainer Sollich kommentiert.

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Zugegeben: Viele Argumente, die gegen einen türkischen EU-Beitritt ins Feld geführt werden, sind durchaus stichhaltig. Allen voran der Grundbefund: Natürlich ist die Türkei kein klassisch europäisches Land. Sie liegt sogar zum größten Teil in Asien und grenzt an Staaten wie Iran, Irak und Syrien. Ein türkischer EU-Beitritt würde diese Länder zu unmittelbaren Nachbarn der EU machen. Und man muss leider feststellen: Um die Konsequenzen dieser geostrategischen Verschiebung haben sich die Befürworter eines türkischen Beitritts - also auch die deutsche Bundesregierung - bisher vorbei gemogelt.

Was bringt die Türkei ein?

Das Land am Bosporus bringt derart viele Menschen und eine derart gewaltige Landmasse auf, dass Europa die Türkei nur unter ganz besonderen Anstrengungen integrieren kann. Dabei spielt gar nicht so sehr eine Rolle, dass die meisten Türken Muslime sind und insofern von vielen Europäern vielleicht als kulturell fremd empfunden werden. Viel schwerer wiegt, dass sie den Europäern wirtschaftlich hinterher hinken. Mit anderen Worten: Ein türkischer EU-Beitritt wird Brüssel vermutlich viel Geld kosten. Vom Problem der Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer ganz zu schweigen.

Trotzdem ist es richtig, dass die deutsche Bundesregierung die türkischen Beitrittsambitionen jetzt noch einmal ermutigt hat. Denn die Debatte, die Teile der deutschen Opposition abermals über das Thema angezettelt haben, ist eine Schein-Debatte. Und zwar deshalb, weil ein Beitritt der Türkei im Prinzip längst beschlossene Sache ist. Die Frage ist nur: wann und unter welchen Bedingungen?

Beitrittsverhandlungen nicht mehr aufzuhalten

Jahrzehntelang haben die Europäer den Türken Avancen gemacht - und insgeheim wohl darauf gehofft, dass Ankara letztlich an den strengen Beitrittskriterien scheitern werde. Aber diese Rechnung ist nicht aufgegangen: Bereits vor vier Jahren wurde die Türkei offiziell in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen. Und unter Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat das Land inzwischen derart viele Reformen auf den Weg gebracht, dass die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen selbst dann nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, wenn der angepeilte Starttermin 2005 doch noch einmal verschoben werden sollte. Hier ist seitens der EU ein Automatismus in Gang gesetzt worden, der nur noch mit einer radikalen Kehrtwende und der Leugnung eigener Versprechen außer Kraft gesetzt werden könnte. Es wäre eine Entscheidung, die in Ankara verständlicherweise auch gewaltigen Ärger und große Enttäuschung hervorrufen würde.

Langfristig ein Platz in der EU?

So ist die Lage - aber: Man muss sie nicht negativ sehen. Die EU-Perspektive hat in der Türkei viele positive Entwicklungen angestoßen - vor allem bei den Menschenrechten. Das sollte von den Europäern weiter ermutigt, denn es sind IHRE Werte, die dort jetzt trotz fortdauernder Defizite zunehmend zum Tragen kommen. Und in einem erweiterten Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten sollte langfristig auch für Ankara ein angemessener Platz zu finden sein. Was bis heute aber fehlt, ist ein tragfähiges Konzept, wie genau und bis wann der Riese am Bosporus integriert werden könnte. Und nicht zuletzt: eine Diskussion darüber, welche Vorteile Europa dabei für sich selbst heraus schlagen kann.