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Schlagbaum und Bjürokratija

Stephan Hille14. Oktober 2004

Die Russen haben von den Deutschen so wunderschöne Worte wie "Schlagbaum" übernommen. Doch immer, wenn die Russen etwas aus dem Ausland übernehmen, neigen sie dazu, das Übernommene ins Maßlose zu steigern.

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Was die "Schlagbaum-Dichte" angeht, dürfte Russland inzwischen weltweit führend sein. Inzwischen steht bald vor jeder zweiten Moskauer Hofeinfahrt ein mechanischer Querbalken, der Unbefugte fernhalten soll. Der dazugehörige Wachmann verteidigt das dahinterliegende Territorium wie einen Schatz. Einlass nur mit Passierschein. Zwar ist auch die deutsche Bürokratie dafür berüchtigt, es "in sich zu haben", doch im Vergleich zu den Verordnungen und Behördengängen, die der russische Staat seinen Bürgern aufzwingt, erscheinen die deutschen Ämter wie Sanatorien.

Es heißt, der Mensch verbringt den größten Teil seines Lebens im Liegen, nämlich im Schlaf. Auf dem zweiten Platz im Ranking der Körperhaltungen steht in Russland ganz sicher das Schlangestehen vor einem Behördenschalter - und das in orthopädisch höchst bedenklicher Stellung. Um den Kontakt mit dem Beamten herzustellen, sind Bittsteller in der Regel gezwungen, sich auf die Höhe des Sichtfensters, hinter dem sich der Sachbearbeiter wie hinter einer Schießscharte verschanzt, herunterzubeugen.

Behördenmarathon

Mindestens einmal im Jahr fällt auch für alle Ausländer in Russland der Startschuss zu einem mehrtägigen kräftezehrenden Behördenmarathon: Dann, wenn das Jahresvisum ausläuft und verlängert werden muss. Im Grunde muss der Ausländer gleich drei Visen verlängern: Das für die eigene Person, ferner die Ausfuhrverpflichtung für das mitgebrachte Umzugsgut und schließlich den Fahrzeugschein für das Auto, egal ob eingeführt oder in Russland gekauft. Für diese Prozedur kann man über den Daumen gepeilt ungefähr eine Woche einplanen.

Das angenehmste ist eigentlich noch die Visabeschaffung, wenn man nicht jedes Jahr aufs neue gezwungen wäre, die 20-stellige Kontonummer der Meldestelle auf einen Einzahlschein einzutragen, der beim besten Willen nur Platz für acht bis neun Ziffern vorsieht. Ein Königreich für einen Vordruck, denkt man sich, doch so viel Luxus ist nicht vorgesehen. Hat man schließlich das neue Visum in den Händen, ist höchste Eile angesagt. Mit dem neuen Visum sind automatisch die beim Zoll hinterlegte Ausfuhrverpflichtung und der Fahrzeugschein ungültig.

Es droht "Straf"

Jeder Tag, der nun ins Land zieht, ohne dass man beide Papiere verlängert, bedeutet "Straf" - auch ein deutsches Wort. Im vergangenen Jahr schaffte ich es erst drei Tage später zum Zoll. Der zuständige Beamte mit vier Sternen auf den Schulterklappen grollte grimmig: "Sie haben wohl keinen Respekt vor der Arbeit der russischen Zollbehörden?" Die Drohung "Straf" hing bereits deutlich im Raum und ließ sich nur durch eine ausführliche und umfassende Beschwichtigungsrede, die viel lobende Worte über den russischen Zoll im einzelnen und Russland als Ganzes enthielt, auflösen.

Weniger Glück hatte ich mit dem Verkehrspolizisten, der mich auf dem Weg zum Straßenverkehrsamt an einem Schlagbaum anhielt. Da ich in diesem Jahr beim Zoll pünktlich sein wollte, kam ich einen Tag zu spät, um meinen Fahrzeugschein zu verlängern. Das Ergebnis: "Straf". Sechs Stunden und etliche Schalter später, war auch dieses Papier erneuert. Eine Woche Rennerei ist zu Ende - ein unbeschreibliches Gefühl …