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"Schluss mit der Straflosigkeit"

Neher/ Gomes/ Estarque (apo)10. Dezember 2014

Nach zweieinhalb Jahren hat die nationale Wahrheitskommission in Brasilien ihren Abschlussbericht vorgelegt. Die Bilanz ist bitter: Auch 30 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur wird in Brasilien weiter gefoltert.

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Demonstration gegen Verharmlosung von Folter während Diktatur in Brasilien
Bild: Imago/Fotoarena

Es war ein besonderer Moment für Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff. Tränen rannen aus ihren Augen, als die sieben Mitglieder der brasilianischen Wahrheitskommission ihr am Tag der Menschenrechte (10.12.2014) im Regierungspalast in Brasilia den Abschlussbericht überreichten.

Auf 2000 Seiten werden dort minutiös die Grausamkeiten der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1985) aufgelistet: Willkürliche Verhaftungen, Folter, Exekutionen, gewaltsame Entführungen und das "Verschwindenlassen" von Regimegegnern.

Dilma Rousseff gehört zu den prominentesten Opfern der bleiernen Jahre - genau wie ihre beiden Amtsvorgänger Luiz Inácio Lula da Silva und Fernando Henrique Cardoso.1970 wurde die damalige Wirtschaftsstudentin im "Zentrum für Information und Investigation" (OBAN) in São Paulo inhaftiert und gefoltert.

Es war für Dilma Rousseff deshalb ein besonderes Anliegen, die in Brasilien vernachlässigte Vergangenheitsbewältigung in ihrer Amtszeit voranzutreiben. Die Mitglieder der Wahrheitskommission wurden von ihr persönlich ernannt.

Blick in den Abgrund

In dem 2000 Seiten umfassenden Bericht sind der Tod und das Verschwinden von insgesamt 434 Personen dokumentiert. Die Zahl der Ermordeten entspricht allerdings nicht der Gesamtzahl der Opfer der Militärdiktatur, sondern lediglich den Fällen, die die Kommission während ihrer zweieinhalbjährigen Arbeit dokumentieren konnte.

Brasilien Wahrheitskommission (Foto: Joedson Alves/dpa)
Als erstes Staatsoberhaupt richtet Dilma Rousseff (Mitte) in Brasilien im Mai 2012 eine nationale Wahrheitskommission ein. Ihre Vorgänger tragen das Vorhaben mitBild: picture-alliance/dpa

Insgesamt sollen während der Diktatur 480 Menschen umgebracht worden sein. Von 160 Verschwundenen gibt es keine Spur mehr. Tausende Menschen wurden aus politischen Gründen inhaftiert. Die Zahl der Folteropfer wird auf mindestens 6.000 geschätzt.

"Die Einberufung einer Wahrheitskommission war eine bedeutende Initiative der Regierung", meint der brasilianische Historiker Carlos Fico von der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro (UFRJ). "Ihre Empfehlungen sind wichtig für die brasilianische Gesellschaft, weil sie auf aktuelle Probleme hinweisen, die noch auf die Militärdiktatur zurückgehen".

Leicht war die Arbeit für die Kommission nicht. Denn ihre Mitglieder bekamen keinen Zugang zum Archiv der brasilianischen Streitkräfte - die Dokumente gelten offiziell als zerstört.

Trotz der Schwierigkeiten bei den Ermittlungen zählt die Kommission in ihrem Bericht 377 Namen von Personen auf, die Menschenrechtsverletzungen begangen oder sich an ihnen beteiligt haben, darunter auch die Ex-Präsidenten Humberto Castello Branco, Arthur da Costa e Silva, Emilio Garrastazu Médici und Ernesto Geisel.

Vladimir Herzog (AP Photo/Dida Sampaio)
Der brasilianische Journalist Vladimir Herzog wurde 1975 ermordetBild: AP

Der lange Schatten der Diktatur

In ihrem Ausblick stellt die Kommission fest, dass die während des Militärregimes verübten Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Exekutionen auch heute noch praktiziert werden. "Dieser Missstand erklärt sich dadurch, dass die in der Vergangenheit begangenen Verbrechen nicht angezeigt und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Dadurch wurde eine Grundlage für deren Fortsetzung geschaffen", lautet das Fazit.

Um dies in Zukunft zu verhindern, spricht die Kommission insgesamt 29 Empfehlungen aus. Sie fordert unter anderem die Bestrafung aller Verantwortlichen sowie ein Schuldbekenntnis des brasilianischen Militärs. Außerdem sollten die offiziellen Entschädigungszahlungen an die Opfer von den Verantwortlichen an den Staat zurückerstattet werden.

Zum Fazit gehört auch die Kritik am Amnestiegesetz. Das Gesetz wurde 1979 von der damaligen Militärregierung erlassen und sieht vor, dass alle während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen, sowohl von Seiten des Staates als auch von Seiten des bewaffneten Widerstandes, nicht strafrechtlich verfolgt werden. Es galt als eine der Bedingungen für den Abgang der Generale.

Eine Ausstellung in Brasilia zeigt ehemalige politische Gefangene (Foto: AP Photo/ Eraldo Peres)
Recht auf Erinnerung: Eine Ausstellung in Brasilia zeigt ehemalige politische GefangeneBild: AP

Ungültige Amnestiegesetze

Der brasilianische Staatsanwalt Marlon Weichert aus São Paulo hält die Forderung von Diktaturopfern, das Amnestiegesetz abzuschaffen für verständlich, aber unnötig. "Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) betrachtet die Amnestiegesetze bereits als ungültig, weil es sich bei den Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt", erklärt er im Gespräch mit der DW. Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterlägen keiner Amnestie und verjährten nicht.

Nach Ansicht Weicherts muss die Entscheidung des interamerikanischen Gerichtshofes auch von der brasilianischen Justiz umgesetzt werden. Dies sei ein Recht der ganzen Gesellschaft, nicht nur der Opfer und ihrer Angehörigen. "Wenn Brasilien internationales Recht missachtet, garantiert es die Straflosigkeit seiner Staatsdiener", so Weichert. "Wir müssen den Kreislauf der Straflosigkeit beenden, denn er führt dazu, dass der Staat permanent Bürgerrechte verletzt."