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Schreiben über den Arabischen Frühling

12. September 2011

"Arabischer Frühling" – So hat Tahar Ben Jelloun sein Buch über die Protestbewegung in der Arabischen Welt genannt. Auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin stellte er das Werk vor.

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Menschen protestieren in Kairo gegen Mubarak (Foto: AP)
Bild: AP

Ein Gedicht - So nennt Tahar Ben Jelloun den Aufstand in der arabischen Welt. Das mag manchem zu poetisch erscheinen, aber Jelloun ist Schriftsteller und hat seine eigene Sprache für die Protestbewegung gefunden. Der Aufstand sei "ein Gedicht", so schreibt er in seinem Buch "Arabischer Frühling", "das dem Bauch des Dichters entspringt, diktiert vom Leben, das sich auflehnt und bessere Zeiten fordert". Vor allem aber ist der Arabische Frühling für den gebürtigen Marokkaner eine spontane Revolte wütender Menschen, "eine körperliche Reaktion, ein Ausdruck des Unerträglichen."

Tahar Ben Jelloun (Foto: dpa)
Tahar Ben JellounBild: picture-alliance/dpa

Genau deshalb unterstützt der 66-jährige Schriftsteller die Protestbewegung – und versucht sie den vielen Besuchern des Internationalen Literaturfestivals in Berlin nahe zu bringen und verständlich zu machen. "Hinter den Millionen von Demonstranten in der arabischen Welt war weder eine politische Partei, noch eine Führerfigur oder ein konkretes Programm", betont er. Daher handelt es sich aus seiner Sicht eher um eine Revolte als um eine Revolution: "Denn hinter Revolutionen steht meistens ein politisches Programm oder eine Ideologie - und das kann neue Formen der Repression gegen Andersdenkende auslösen".

Der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi als literarischer Held

Dass die Menschen in Tunesien oder Ägypten nicht im Namen einer Ideologie protestiert haben, ist für Tahar Ben Jelloun ein eindeutiges Signal gegen den Islamismus. "Glücklicherweise sind die Revolten in der arabischen Welt an dieser Barriere gegen die menschliche Intelligenz – dem Islamismus – einfach vorbeigezogen", meint der Autor. Nicht Islamisten hätten die Proteste angestoßen, sondern "eine junge urbane Generation, die für die Würde und Freiheit des Individuums kämpft". Der Schriftsteller porträtiert einen Helden dieser Generation in der Novelle "Der Funke": den Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der mit seiner Selbstverbrennung die Revolte in Tunesien eingeleitet hat.

Plakat Mohamed Bouazizi
Demonstranten mit einem Plakat von Mohamed BouaziziBild: picture alliance/dpa

"Ich habe sein Leben erfunden und einen kurzen, sachlichen und direkten literarischen Text geschrieben", sagt Tahar Ben Jelloun. "Denn ich wollte verstehen, was diesen jungen Menschen in den Freitod getrieben hat – zumal der Selbstmord nicht zur arabischen und muslimischen Tradition gehört." Das Ergebnis ist eine bewegende Novelle über einen arbeitslosen Akademiker, der täglich neuen Demütigungen ausgesetzt ist. Seine Verzweiflung belastet die Beziehung zu der Frau, die er liebt – und treibt ihn schließlich in den Tod.

Als Autor und Psychotherapeut erkundet Tahar Ben Jelloun auch die Gedankenwelt der Tyrannen. Er lässt im Buch "Arabischer Frühling" Ben Ali und Hosni Mubarak über ihre angeblich "undankbaren" Völker reflektieren. In den 60er Jahren gehörte Tahar Ben Jelloun selbst zur protestierenden Jugend. Weil er an den Studentenaufständen gegen die Gewaltherrschaft der marokkanischen Polizei teilgenommen hat, wurde er 1966 für fast zwei Jahre in ein Militärlager interniert.

"Schreiben bedeutet zu zweifeln"

Tahar Ben Jelloun Schriftsteller
Der Autor wurde 2011 mit dem Erich-Maria-Remarque Friedenspreis ausgezeichnetBild: AP

Heute werfen ihm Kritiker vor, er würde den marokkanischen König Mohamed VI. verehren. Tatsächlich äußert er sich in seinem Buch positiv über einige Entscheidungen des Monarchen. Dieser habe unter anderem die Verbrechen seines Vaters untersuchen lassen und die Frauenrechte gestärkt. Doch von einer undifferenzierten Verehrung kann kaum die Rede sein. Der Autor begrüßt zwar die Reformprozesse in Marokko – aber er lässt sich auch von seinem Prinzip des Reflektierens und Zweifelns leiten.

"Jene, die nicht zweifeln, gefährden das Wohlergehen der Gesellschaft – und auch die Literatur", meint Tahat Ben Jelloun. "Denn Schreiben bedeutet auch, zu zweifeln." Diese Zweifel ergeben sich für ihn aus dem Wissen, "dass sich die Wahrheit manchmal entzieht oder uns Illusionen gegenüberstellt."

Der Arabische Frühling ist nicht das einzige politische Thema des diesjährigen Internationalen Literaturfestivals in Berlin. Bis zum 17. September geht es unter anderem um die Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001, um Menschenrechte in China und multiethnische Gesellschaften in Osteuropa. 140 Autoren aus 53 Ländern sind dabei, unter anderem Liao Yiwu, Julia Franck und Melinda Nadj Abonji.

Autorin: Alexandra Scherle

Redaktion: Sabine Damaschke