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Schuld und Versöhnung

Peter Philipp / Oliver Samson2. Juni 2003

"Solingen" jährt sich am 29.5. zum zehnten Mal: Es war das folgenschwerste ausländerfeindliche Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Fünf Türkinnen wurden getötet, als Neonazis ihr Haus anzündeten.

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Der 29.5.1993: <br>Ein schwarzer Tag für DeutschlandBild: AP

Melancholische Musik klingt durch das türkische Lokal im Zentrum von Solingen. Eines der wenigen, das am späten Nachmittag noch Essen anbietet. Die anderen türkischen Gaststätten in der Gegend sind entweder zum Treffpunkt kartenspielender Arbeitsloser oder aber in ihren Fenstern hängen Schilder : "Zu verkaufen", "Zu vermieten", "Wir haben geschlossen". Die Vielzahl türkischer Läden, Reisebüros und Lokale lässt ahnen, wie hoch der Anteil der Türken in der Stadt ist: Von den rund 170.000 Einwohnern stammt jeder fünfte aus dem Ausland - und Türken sind die mit Abstand größte Gruppe. Viele leben schon in der dritten Generation hier.

Motiv: Hass

Viele der kleinen Metallfabriken, für die Solingen weltberühmt geworden ist, haben längst schließen müssen. Die Arbeitslosenquote unter den Türken ist hoch. Mehr als das aber dürfte so manchem von ihnen auch heute noch zu schaffen machen, was sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai 1993 hier ereignet hat: Beim Brandanschlag auf das Wohnhaus der Familie Genc kamen fünf ihrer Landsleute um. Getötet von deutschen Rechtsradikalen. Ihr Motiv: Hass.

Es war die Zeit in Deutschland, als es fast täglich zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Überfällen kam. Der Anschlag von Solingen war der Höhepunkt einer Welle ausländerfeindlicher Gewalt. Im dritten Jahr nach der friedlichen deutschen Wiedervereinigung wurden die Namen der Orte Hoyerswerda, Rostock, Mölln und an Pfingsten 1993 dann auch Solingen zu Synonymen für menschenverachtende Gewalt-Exzesse deutscher Rechtsextremisten.

Obstgarten am Ort des Verbrechens

Solingen war davon bis zu Pfingsten 1993 verschont geblieben. Man war sogar stolz darauf, wie friedlich man hier doch mit seinen nicht-deutschen Mitbürgern zusammenlebte. Im Protest gegen Überfälle anderswo war man auch in Solingen auf die Straße gegangen. Um so größer der Schock, dass solches nun auch hier passierte.

Wo die Schweizer Straße auf die Untere Werner Straße stößt, liegt heute ein kleiner Obstgarten. Nur ein winziges Denkmal erinnert daran, dass hier ein altes Fachwerkhaus stand, das die Familie Genc sich gekauft hatte: "29. Mai 1993. An dieser Stelle starben als Opfer eines rassistischen Brandanschlags Gürsin Ince, Hatice Genc, Gülüstan Öztürk, Hülya Genc, Saime Genc". Daneben ein etwas verwittertes Schild: "Wir haben Euch nicht vergessen, wir werden Euch nicht vergessen." Die Trümmer wurden bald nach dem Anschlag auf Wunsch der Besitzer weggeräumt, obwohl man hier vielleicht noch wichtige Spuren für den Prozess hätte finden können. Inzwischen sind die Täter zu langjährige Haftstrafen verurteilt.

Keine Entwarnung

Obwohl es seither keine derart spektakulären Anschläge mehr gegeben hat - der Brandanschlag auf ein Lübecker Asylbewerberheim 1996 mit zehn Toten ist noch immer ungeklärt -, geben die Behörden keineswegs Entwarnung. Die Militanz in der rechten Szene nimmt weiter zu, wie aus dem Mitte Mai vorgelegten Verfassungsschutzbericht 2002 hervorgeht. Demnach ging zwar die Zahl rechtsextremistischer Organisationen und ihrer Mitglieder erneut zurück, gleichzeitig stieg aber die Zahl der als gewaltbereit eingestuften unter ihnen um 300 auf 10.700.

In Solingen haben sich seit dem Anschlag viele um eine Verbesserung des Klimas bemüht: Es wurden Begegnungsstätten eingerichtet, christliche und muslimische Gemeinden nahmen Kontakte miteinander auf, Schulklassen reisten in den Heimatort der Gencs in der Türkei. Bundespräsident Johannes Rau hob in einem Pressegespräch zum zehnten Jahrestag das Verhalten der Überlebenden hervor. "Das Bewegendste ist für mich die Haltung der Familie Genc." Der Bundespräsident sagte: "Da war kein Hass, kein Abschied, sondern der Ruf nach Versöhnung zwischen den Menschen und Völkern. Das ist das positive Signal nach der schrecklichen Tat."

Rau war 1993 in seiner damaligen Funktion als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen sofort nach bekanntwerden des Anschlags nach Solingen gefahren. Er habe am Tatort eine Weile gebraucht, um mit dem Gesehenen fertig zu werden, wie Rau heute sagt. Der Bundespräsident besucht seither regelmäßig die Familie Genc. Auch zum zehnten Jahrestag werde er nach Solingen kommen, sagte Rau.