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"Seil vermittelt falsche Sicherheit"

Stefan Nestler5. Juli 2012

Der Bergunfall mit fünf Toten am 4010 Meter hohen Lagginhorn in der Schweiz hat Fragen aufgeworfen - Robert Mayer, Ausbildungsleiter des Deutschen Alpenvereins, im DW-Gespräch.

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Blick auf den Viertausender Lagginhorn. Foto: AP/dapd
Bild: dapd

Beim bisher schwersten Bergunfall dieses Jahres in der Schweiz sind am Dienstag (03.07.2012) fünf deutsche Bergsteiger ums Leben gekommen. Sie stürzten unterhalb des 4010 Meter hohen Gipfel des Lagginhorns im Schweizer Kanton Wallis ab. Zwei Opfer waren Teenager. Die Ursache des Unglücks ist noch unklar. Robert Mayer, Sicherheitsexperte und Ausbildungsleiter des Deutschen Alpenvereins (DAV), äußerte sich im DW-Interview.

Deutsche Welle: Halten Sie es auch als wahrscheinlichste Variante, dass es sich um einen so genannten "Mitreißunfall" handelt, dass also einer die anderen am Seil mit in den Tod gerissen hat?

Robert Mayer: Definitiv. Die Alternative wäre ein Schneebrett-Abgang, aber die Wetterverhältnisse waren eigentlich nicht danach. Es war in den Tagen davor sehr warm und hat gegraupelt, dabei bilden sich keine Schneebretter. Folglich handelt es sich ziemlich sicher um einen Mitreißunfall, ob mit oder ohne Seil, ist unseren Wissens nach bisher noch nicht schlüssig geklärt.

Angenommen, sie waren angeseilt, wie groß ist die Chance, das Abrutschen zu verhindern, wenn ein Mitglied der Seilschaft abstürzt?

Das hängt von mehreren Faktoren ab: von der Steilheit des Geländes, von der Beschaffenheit der Schneeoberfläche, vom Abstand zwischen den Angeseilten und nicht zuletzt von der Reaktionsfähigkeit des Bergsteigers hinter dem Abstürzenden. Eine pauschale Aussage ist hier nicht möglich.

Wäre es sicherer gewesen, in einer Zweier- oder Dreier- als in einer Fünfer-Seilschaft zu gehen?

Es wäre noch sicherer, dort ganz ohne Seil zu gehen. Das Seil vermittelt in derartigem Gelände von 30 bis 40 Grad Steilheit eine falsche Sicherheit. In solchem Gelände sind eigentlich nur Bergführer ausgebildet und geübt, einen Sturz am so genannten "kurzen Seil" zu halten. Normal-Bergsteiger können das in der Regel nicht.

Hätte der Unfall also vermieden werden können, wenn sich die Gruppe einem einheimischen Bergführer anvertraut hätte?

Grundsätzlich natürlich ja. Ein Bergführer hat ein viel besseres Gespür für Risiken und Gefahren und handelt dann entsprechend. Meine Vermutung ist, dass ein Mitglied der Gruppe ausgerutscht ist – aufgrund verschiedener Faktoren. Zum einen die Müdigkeit. Sie waren am Gipfel und früh aufgestanden. Es kommt die Höhe dazu, sie waren erschöpft. Zum anderen der weiche Schnee. Sehr oft werden die "Stollen" unter den Steigeisen unterschätzt. Wenn der Schnee weich ist, haftet er zwischen den Steigeisen-Zacken und bildet richtige Stollen. Da passiert es ganz schnell, dass vor allem ein unerfahrener Bergsteiger wegrutscht und die anderen mitnimmt.

Zwei Bergsteiger über den Wolken. Foto: Pavol Kmeto/Fotolia.com
Bergsteigen ist RisikosportBild: Fotolia/Pavol Kmeto

Die Bergretter beklagen Selbstüberschätzung und mangelnde Fitness als Hauptgrund für die zunehmende Anzahl an Bergunfällen in den Alpen. Haben Sie diese Beobachtung auch gemacht?

Unsere Unfallstatistik sagt eigentlich eher das Gegenteil. Gemessen an der Zahl der Leute, die inzwischen ins Gebirge, auch ins Hochgebirge, gehen, passiert prozentual immer weniger. Die Zahl der Mitreißunfälle ist in den letzten 20 Jahren in Relation zur Zahl der Alpenvereins-Mitglieder auf ein Fünftel gesunken. Natürlich gibt es auch Leute, die sich überschätzen. Aber generell beobachten wir, dass die Bergsteiger gut informiert, vorbereitet und in der Regel auch gut ausgerüstet sind – was im Übrigen auch für diese Gruppe gilt.

Muss man also solche Dramen als kaum zu vermeidende Zwischenfälle hinnehmen?

Das Gebirge birgt immer ein gewisses Risiko, das man nicht hundertprozentig ausschalten kann. Aber das macht ja in gewisser Weise auch einen Teil des Reizes am Bergsteigen aus. Die Konsequenz daraus ist, dass immer wieder einmal Unfälle passieren, wobei dieses Unglück natürlich besonders tragisch ist.

Das Lagginhorn gilt als so genannter "leichter" Viertausender. Was sagen Sie als Sicherheitsexperte zu solchen Einstufungen?

Leicht ist natürlich relativ. Aber verglichen mit den anderen Viertausendern ist das Lagginhorn sehr wohl einer der leichtesten Viertausender in den Alpen. Aber auch dort kann man – das Unglück am Dienstag beweist es – weit abstürzen. Ich kenne keinen Viertausender, wo es nicht auch auf dem Normalweg Stellen gibt, an denen man tödlich abstürzen könnte.