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Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden (Mt 5,7)

16. November 2013

Es ist nicht immer leicht, Erbarmen zu üben. Noch viel schwerer aber ist es, Erbarmen anzunehmen, meint Schwester Margareta Gruber von der katholischen Kirche.

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Die Sieben Werke der Barmherzigkeit (Pieter Brueghel d.J.)
Die Sieben Werke der Barmherzigkeit (Pieter Brueghel d.J.)Bild: public domain

Wenn mich jemand mitleidig ansieht, schäme ich mich. Und ich schäme mich auch, einem Bettler am Hauptbahnhof etwas in den Pappbecher zu werfen. Das sagt einiges über mich, aber macht auch ein Problem deutlich, dass viele mit Mitleid und Erbarmen haben: Es geht von oben nach unten und schafft deshalb unweigerlich eine Hierarchie. Almosengeben zeigt mangelndes politisches Bewusstsein, so denken viele. Deshalb reden wir lieber von der Gerechtigkeit: den gerechten Forderungen der Notleidenden etwa. Und doch ahnen viele, dass die „Einführung eines zusätzlichen Grades von Mitleid und Güte“ (P. Ricoeur) sich als Überlebensfrage unserer Gesellschaft erweisen könnte.

Auch in gewissen philosophischen Kreisen der Antike war Barmherzigkeit peinlich. Sie galt als eine Leidenschaft, in der der Mensch die Kontrolle über sich verliert und sich über Gebühr, ohne die angemessene Distanz – uncool sozusagen –, auf das Leiden der Mitmenschen einlässt. Genau diese distanzlose Leidenschaft des Erbarmens wird über Israels Gott im Alten Testament ausgesagt. Er verliert die Kontrolle über sich selbst, wenn das Mitgefühl in seinem Bauch entbrennt, er kann sein Richteramt nicht mehr ausüben und Israel nicht im gerechten Zorn bestrafen. Er klagt: „Mein Verstand kehrt sich gegen mich, ganz und gar entbrannt ist mein Mutterschoß“ (Hos 11,8). Der weibliche Mutterschoß Gottes ist der Ort des Erbarmens; die hebräische Sprache ist hier wunderbar körperlich-konkret.

Gottes Erbarmen: Der „Gnädige und Barmherzige“ ist vielleicht die schönste und stärkste Bezeichnung Gottes im Alten Testament (Ex 34,6; Dtn 4,31, Ps 86,15. 103,8). Manche werden wissen, dass im Koran alle Suren außer einer mit dieser Formel beginnen: „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen.“ Dahinter steckt doch die Erfahrung, die viele Menschen gemacht haben, die sich auf Gott eingelassen haben: Er gibt immer mehr als ich verdiene, mehr als die gerechte Forderung; ja, er hat Freude daran, das Unverdiente zu geben.

Erbarmen bedeutet jedoch mehr als die Freude am Geben. Der griechische Kirchenvater Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert nennt sie „eine Traurigkeit, welche der Mensch aus freien Stücken über fremdes Leid trägt“. Dietrich Bonhoeffer sagt sogar, der Barmherzige verzichtet auf seine eigene Würde, weil er sich mit fremder Schande einlässt. „Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist“. Als der Heilige Franziskus von Assisi begann, sich mit den Aussätzigen einzulassen, haben ihn seine Freunde mit Straßendreck beworfen, und auch die Aussätzigen selber waren keineswegs alle dankbar und erfreut über die Hilfe. Erbarmen anzunehmen ist unglaublich schwer. Vielleicht verheißt die Seligpreisung deshalb als „Lohn“ für den Barmherzigen die Fähigkeit, selbst Erbarmen empfangen zu können.

Noch einmal Gregor von Nyssa: Er lädt am Schluss seiner Rede über die Seligpreisung der Barmherzigen zu einer kühnen Meditation ein: Wir mögen uns einmal vorstellen, wie es sein wird, wenn wir den Menschen, denen wir im Leben Erbarmen geschenkt haben, vor dem Angesicht des ewigen Richters wieder begegnen: Denen wir Gutes getan, die wir getröstet und gesättigt habe, und vor allem: denen wir vergeben haben. Welche Freude wird auf ihren Gesichtern sein, wenn sie uns erkennen. Und welche Seligkeit werden wir empfinden, wenn wir ihre Freude ohne Scham empfangen dürfen.

Gottes Erbarmen ist seine Liebe, wie sie sich zeigt angesichts des Widerstandes, der Ablehnung und der Sünde in der Welt. Deshalb ist die Vergebung die Vollendung des Erbarmens. Je mehr die Menschen sich verschließen, desto weniger kann Jesus heilen; doch seine letzte Bitte an den Vater ist die um Erbarmen für die Menschen, die ihm das Erbarmen verweigern. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun ...“(Lk 23,34). Jesus, der Gekreuzigte, ist das menschgewordene Erbarmen Gottes! Und das erste Wort des Auferstandenen spricht dieses Erbarmen von neuem zu: „Friede sei mit euch“ (Joh 20,21.26). Der Gekreuzigte hat das Erbarmen Gottes selber in radikaler Weise erfahren und schenkt es vollmächtig weiter: Gottes Liebe, die stärker ist als der Tod.

Zur Autorin: Sr. Margareta Gruber ist Franziskanerin von Kloster Sießen und seit 2008 Professorin für Neues Testament an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar. Von 2009-2013 lebte und lehrte sie in Jerusalem. Als Inhaberin des Laurentius-Klein-Lehrstuhls für Biblische und Ökumenische Theologie war sie Dekanin des Theologischen Studienjahrs Jerusalem an der Abtei Dormitio Mariae. Seit August 2013 lebt und lehrt sie wieder an der Theologischen Fakultät in Vallendar.

Sr. Margareta Gruber ofm, Kloster Sießen (Baden-Württemberg); Copyright: privat
Sr. Margareta Gruber ofmBild: privat