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Landflucht im Jahr des Affen

Frank Sieren5. Februar 2016

Immer mehr Chinesen zieht es in die Heimat zurück. Grund allein ist nicht die schwächelnde Konjunktur Chinas, sondern auch die Sehnsucht nach mehr Lebensqualität, meint DW-Kolumnist Frank Sieren.

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China, Vorbereitungen zum Neujahrsfest
Bild: picture-alliance/AP Photo/A. Wong

Obwohl das Jahr des Affen erst am Montag beginnt, werden die Straßen in den Städten Chinas schon immer leerer. In Peking, wo ich zwischen dem dritten und zweiten Ring lebe und arbeite, komme ich seit Tagen schon öfter als sonst ohne Stau durch den Verkehr. Und die Luft ist sauber und smogfrei – aufgrund der wegen Neujahrsfeierlichkeiten geschlossenen Fabriken. Denn landesweit bleiben die Fabriken mindestens für eine Woche zu. Und rund 250 Millionen Arbeiter lösen wie jedes Jahr die größte Reisewelle im Land aus, wenn sie für das Neujahrsfest nach Hause kehren.

Dieses Jahr aber ist einiges anders als sonst: Viele Arbeiter sind schon vor Wochen nach Hause gefahren. Das liegt an der schwächelnden Konjunktur. Chinas Wirtschaft wuchs im vergangenen Jahr nur noch um 6,9 Prozent. Und 2016 soll das Wachstum auf 6,5 Prozent zurückgehen. Jobs am Fließband und im produzierenden Gewerbe sind weggefallen. Aber auch immer weniger Arbeiter, die besser qualifiziert sind, wollen auf dem Bau oder in Fabriken arbeiten. Körperliche Arbeit, wie sie zum Teil von ihren Eltern zu Hause als Bauern ausgeübt wird, steht schon lange nicht mehr ganz oben auf der Wunschliste der Berufe von jüngeren Arbeitern. Schon gar nicht, wenn man dafür in die teuren Großstädte ziehen muss.

Zahl der innerchinesischen Migranten sinkt

Zum ersten Mal seit dreißig Jahren ist die Zahl der innerchinesischen Migranten im vergangenen Jahr um rund sechs Millionen gefallen. Das hat einerseits mit der demografischen Entwicklung des Landes zu tun, die geburtenschwachen Jahrgänge bringen immer weniger junge Wanderarbeiter hervor. Andererseits hat die chinesische Regierung erkannt, dass in den überladenen Millionen-Großstädten des Landes immer häufiger Zweiklassengesellschaften entstehen. Ursache ist das sogenannte Hukou-System, das chinesische Melderegister, das jede Person in einem Familienregister am Herkunftsort führt und einen Umzug innerhalb Chinas eigentlich illegal macht. De facto ist dadurch eine Art Kastensystem entstanden, das die Wanderarbeiter zu Bürgern zweiter Klasse macht. Denn sie sind häufig in den Städten von Sozialleistungen, Krankenhausbesuchen ausgeschlossen und können noch nicht einmal ihre Kinder in die Schule schicken.

Frank Sieren Foto: Marc Tirl
DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Haben vor vierzig Jahren noch nicht mal zwanzig Prozent der chinesischen Bevölkerung in der Stadt gewohnt, sind es heute schon über 50 Prozent. Bis 2020 sollen es dann schon 60 Prozent sein. Das bedeutet aber auch, dass sich damit sozialer Sprengstoff bildet, und es immer öfter zu Protesten und Unzufriedenheit in der chinesischen Bevölkerung kommt. Peking steht vor einem Dilemma. Denn eine Reform des Hukou-Systems droht teuer zu werden, weil die Leistungen in der Stadt natürlich teurer sind als auf dem Land. Aber vielleicht dämpft die sich abkühlende Konjunktur auch dieses Problem, weil manche Migranten sich tatsächlich überlegen, den Städten den Rücken zu kehren.

Gesundes Leben abseits der großen Städte

Aber es gibt noch einen neuen Trend: Nicht nur Wanderarbeiter könnten nach den Feiertagen nicht mehr an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, sondern auch die "White Collar Worker" – also Angestellte in Unternehmen, die teils studiert haben und die weitaus mehr verdienen als ein Bauarbeiter auf Pekings Baustellen. Denn viele "White Collar Worker" haben genauso wie die Wanderarbeiter erkannt, dass ihre Aussicht eines Tages eine Wohnung in den Großstädten Chinas wie Peking, Shanghai oder Guangzhou zu erwerben, gleich Null ist. Sie sehen ihre Zukunft daher eher in den zweit- oder drittrangigen Städten wie Chongqing, Nanjing oder Luoyang.

Gleichzeitig hat die Regierung nun die Entwicklung von ländlichen Projekten durch Infrastrukturprojekte und Kredite für Investitionen im ländlichen Raum unterstützt. Auch dadurch soll das Einkommen pro Kopf in den ländlichen Regionen Chinas in diesem Jahr zum ersten Mal über 10.000 Yuan (1.500 Euro) steigen. Das würde damit schneller steigen als das Pro-Kopf-Einkommen in den Städten. Zusammen mit der Aussicht auf günstigere Mieten, näherer Familienanbindung, und nicht zuletzt auf Versorgung mit sichereren Lebensmitteln, die nicht verdorben oder gepanscht sind, treibt das viele Städter wieder zurück aufs Land.

Chancen auf Wachstum im Westen des Landes?

Peking unterstützt die Idee von "ländlichen Start-ups" mehr denn je. Allein in der Provinz Sichuan im Südwesten Chinas sollen inzwischen 40.000 Rückkehrer ein neues Gewerbe angemeldet haben. Das wäre nicht der schlechteste Weg, neue Wachstumschancen für die chinesische Wirtschaft zu erschließen und somit das Binnenwachstum zu stärken.

Unser Korrespondent Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.