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Platz 177

Alexander Göbel18. September 2008

Seit einem Jahr regiert in Sierra Leone ein demokratisch gewählter Präsident. Das Land liegt am Boden, aber die Menschen geben nicht auf. Denn schlimmer, sagen sie, könne es nicht mehr werden.

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Hoffnung auf Besserung: Die Menschen in Sierra Leone geben nicht aufBild: AP

Es ist ein heißer Nachmittag in Funkia, an der Goderich Wharf im Süden von Freetown. Die Fischer in ihren buntbemalten Booten legen hier an, um den Fang des Tages zu verkaufen. Kambu schaut schon gar nicht mehr hin. Der 35-Jährige gehört zu den Drop-Outs, zu den Arbeitslosen und Verzweifelten des Landes, die hier auf den Felsen der Bucht ihr Elend vergessen wollen - mit viel Palmwein und Marihuana. Kambu hat eine Frau und zwei Kinder. Was er nicht hat, ist ein Job. Er sucht, aber er findet nichts, er ist am Ende. "Diese Armut ist einfach zuviel für uns", seufzt er.

Dabei ist Kambu gelernter Zimmermann. Einst wollte er etwas schaffen. Eine kleine Werkstatt hatte er sich eingerichtet, dann kam der Angriff der Rebellen auf Freetown und alles war kaputt. Fast zehn Jahre ist das her, doch Kambu hat sich nie davon erholt. Als Fischer hat er sich durchgeschlagen, wollte seinen Kindern die Schulgebühren bezahlen. Aber vor zwei Jahren verlor er auch diesen Job. Seitdem geht Kambu jeden Morgen auf Arbeitssuche. "Heute muss es klappen", denkt er sich jeden Morgen, und am Abend traut er sich nicht nach Hause, weil er wieder nichts gefunden hat. "Ich schäme mich vor meiner Frau und meinen Kindern", gesteht Kambu. Die Armut macht ihn unglücklich.

Neue Regierung - altes Lied

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Wer noch ein Fischerboot hat, kann sich glücklich schätzenBild: DW-TV

Joseph Squire sitzt daneben und nickt. Er weiß: Bald könnte dieses Schicksal auch ihn ereilen. Gerade hat Joseph seinen High-School-Abschluss geschafft, jetzt will er eigentlich aufs College - Ingenieur will er werden. Aber studieren kostet Geld - Geld, das Joseph nicht hat. Mindestens eine Million Leones, rund 240 Euro pro Semester müsste er aufbringen. Wie, das weiß er nicht. "Meine Mutter ist alt, sie kann nicht für mich sorgen", sagt Joseph, "Ich bin allein, und ich weiß nicht, wie ich das Geld zusammenkriegen soll. Deswegen hänge ich hier herum, so wie die anderen."

Depression und Selbsthass sind groß in Sierra Leone. Die Zahl der Gewalttaten steigt. Drei Viertel der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Die meisten sind arbeitslos. Sierra Leone ist kaputt. Zehn Jahre Bürgerkrieg haben das Land zu Grunde gerichtet - keine Infrastruktur, keine Arbeit. Nach den Wahlen vor einem Jahr sollte alles besser werden, haben sie gehofft. "Wir haben für eine neue Regierung gebetet", erinnert sich Joseph. Die neue Regierung haben sie jetzt, aber Arbeit haben sie immer noch keine. "Nichts hat sich geändert, wie sollen wir denn überleben?"

Enttäuschte Jugend

Photograph made available 08 August 2007 shows a supporter of the People's Movement for Democratic Change (PMDC) party, dressed in the orange party colours, with a sticker on her back stating in local Krio language 'don't use guns to get democracy', among thousands waiting for Charles Margai, their presidential candidate to arrive at the party's final campaign rally in Victoria Park, central Freetown, Sierra Leone 07 August 2007. Presidential elections are due on 11th August. The PMDC is one of the three parties thought to be in the running for victory on 11 August. EPA/TUGELA RIDLEY (zu dpa-Korr. "Aus Kindersoldaten wurden Wähler - Bewährungsprobe für Sierra Leone" vom 09.08.2007= +++(c) dpa - Bildfunk+++
Vor allem die Jugend setzte sich für Demokratie ein - bis jetzt hat es sich für sie nicht ausgezahltBild: PA/dpa

Ohne die beherzte Kampagne der Jugend wäre der All People’s Congress (APC) heute vielleicht nicht an der Macht. Vor allem die jungen Menschen waren es, auch die früheren Kindersoldaten, die trotz oder gerade wegen ihres Traumas unermüdlich an den Wechsel glaubten.

Jetzt laufe die neue Regierung Gefahr, ihre treuesten Anhänger zu enttäuschen, warnt Christiana Thorpe, die Vorsitzende der nationalen Wahlkommission. "Wer nichts zu tun hat, kommt schnell auf dumme Gedanken", sagt Thorpe - und die Jungs von der Goderich Wharf haben nichts zu tun. Dabei könnte die Regierung diese Männer in ihren besten Jahren doch eigentlich so gut beim Wiederaufbau des Landes gebrauchen.

Die Partei des neuen Präsidenten Ernest Bai Koroma trat mit großen Versprechen an: Arbeit und Fortschritt, Null-Toleranz gegenüber der Korruption. Der APC ist den Sierra Leonern bestens bekannt. Es ist die Partei, die von 1968 bis zum Militärputsch von 1992 regierte und lange Zeit für den Ausbruch des Bürgerkriegs mitverantwortlich gemacht wurde.

Die SLPP, die Sierra Leone People’s Party des früheren Präsidenten Kabbah, galt lange als Friedensgarant, verspielte das Vertrauen jedoch schnell. Kabbah, der auch bei den internationalen Gebern beliebte war, konnte Misswirtschaft, Korruption und Straflosigkeit nicht eindämmen.

"Es kann nur aufwärts gehen"

Aug 15, 2003; Kono, Sierra Leone; The child diamond miner on the right makes a funny face despite the horrible scar on his chest. The RUF had a habit of carving its initials into the bodies of its child soldiers to mark them for life. The further scarring is from his attempt to remove the initials. Foto: Les Stone +++(c) dpa - Report+++
Fürs Leben gezeichnet: Zehn Jahre Bürgerkrieg haben bei der Jugend des Landes ihre Spuren hinterlassenBild: picture-alliance/ dpa

Die Wahlen 2007 sollten neuen Schwung bringen. Anders als in Kenia oder Simbabwe waren die Wahlen friedlich. Es gibt eine demokratisch gewählte Regierung, ein Parlament, eine Verfassung. Nach einem Jahr aber fragen sich die Männer, die hier an der Goderich Wharf sitzen, was sie davon haben - eine Frage, die sich auch David Carew gefallen lassen muss.

Große Fortschritte kann der frischgebackene Minister für Finanzen und Entwicklung nicht vorweisen. Gerade ist sein Land im Entwicklungsindex der Vereinten Nationen wieder auf dem 177. Platz gelandet – von 177 Ländern, tiefer geht es nicht. "Das ist eine fantastische Position für uns", sagt Carew, "Alles, was wir tun, wird dem Fortschritt dienen."

Carew ist entweder weltfremd oder er ist gnadenloser Optimist. Aber was bleibt ihm auch übrig, angesichts der Herausforderungen, denen er sich gegenübersieht? Er weiß gar nicht, wo er anfangen soll: beim katastrophalen Gesundheitssektor, dem völlig unterfinanzierten Bildungswesen, dem Straßenbau, der schlechten Stromversorgung, dem Rohstoffsektor, den Auslandsinvestitionen, der schlecht ausgerüsteten Polizei oder bei der grassierenden Korruption. Nach wie vor gehen Millionen von Entwicklungshilfegeldern in kriminellen Kanälen verloren – und das bei einem Gesamtbudget von nur 340 Millionen Dollar, das auch noch zur Hälfte geberfinanziert ist.

Die Aufgaben sind überwältigend, aber das, so scheint es, macht den Ehrgeiz der Verantwortlichen nur noch größer - auch bei Wahlkommissionsleiterin Thorpe. "Wenn man oben ist, hat man immer Angst, herunterzufallen", sagt sie. "Aber wenn man unten ist, dann kann es nur aufwärts gehen!" Jetzt wäre es an der Zeit für Sierra Leone, endlich nach oben zu klettern, meint Thorpe, "eine goldene Gelegenheit".

Von dieser goldenen Gelegenheit haben die frustrierten jungen Männer auf den Felsen von Goderich bisher wenig gemerkt. Sie ertränken ihre Verzweiflung in Palmwein, betäuben sie sich mit Marihuana. Aber die Hoffnung in die hart erkämpfte Demokratie wollen sie so schnell nicht aufgeben. "2012 sind die nächsten Wahlen", sagt Joseph. "Wenn der Präsident bis dahin nichts für uns tut, wird er abgewählt, so einfach ist das!"