1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Verlockendes Angebot in der Flüchtlingskrise

Bernd Riegert7. März 2016

Alle Flüchtlinge und Migranten aus Griechenland will die Türkei künftig zurücknehmen. Die EU muss aber Bedingungen erfüllen. Werden die Mitgliedsstaaten handelseinig? Bernd Riegert vom Sondergipfel in Brüssel.

https://p.dw.com/p/1I8rL
Seidenstraße Antakya Markt
Türkischer Basar in Antakya: Verhandeln zum Vorteil beider Seiten (Archiv)Bild: picture-alliance/dpa

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu präsentierte den 28 EU-Staats- und Regierungschefs beim gemeinsamen Mittagessen ein Angebot, das viele am Tisch in Brüssel verblüffte. Der Gast aus Ankara sollte bei der Bewältigung der Flüchtlingkrise in der EU helfen. Bessere Grenzsicherung und die Rücknahme von Wirtschaftsmigranten hatten sich die Europäer erhofft, doch Davutoglu kündigte an, die Türkei werde sämtliche Migranten und Flüchtlinge, die von der türkischen Küste nach Griechenland übersetzen, von einem noch zu bestimmenden Tag X an zurücknehmen. Egal ob Syrer, Afghane, Iraker oder Nordafrikaner, alle Menschen sollten von den griechischen Inseln wieder in die Türkei "zurückgeschoben" werden, wie das im Juristen-Jargon heißt. Die Zahl der Menschen, die Griechenland via Türkei erreichten, solle auf Null sinken.

Kein Flüchtling mehr über Griechenland?

Allerdings, darauf weisen EU-Diplomaten hin, hat der türkische Ministerpräsident seinen Vorschlag, der sich für die kriselnde EU erst einmal verlockend anhört, mit einigen Bedingungen verknüpft. Die Türkei möchte, dass die Europäer für jeden syrischen Bürgerkriegsflüchtling, der aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht wird, ein anderer syrischer Flüchtling auf legalem Weg direkt aus der Türkei in die EU verteilt wird. Dieser Tauschhandel soll dazu führen, dass syrische Flüchtlinge sich gar nicht erst auf den Weg über die Agäis machen, sondern gleich in der Türkei auf eine mögliche Umsiedlung warten. Alle anderen Menschen, die keine offensichtlichen Kriegsflüchtlinge nach UN-Standards, sondern eher Wirtschafts-Migranten sind, will die Türkei in deren Herkunftsländer zurückschaffen. Wie die Türkei plötzlich ihre Seegrenze sichern will und wann der Tag X für die völlige Rückführung aller Flüchtling erreicht sein könnte, blieb unklar. Ein Datum gibt es noch nicht.

EU Gipfel Brüssel Ahmet Davutoglu Donald Tusk
Davutoglu (Mi.) und EU-Ratspräsident Tusk (re.): Noch nicht ganz handelseinigBild: picture-alliance/dpa/C. Licoppe

Türkei möchte Geld und Visafreiheit

Desweiteren soll die EU für das Jahr 2017 weitere drei Milliarden Euro für Flüchtlingsprojekte in der Türkei ausgeben. Für das laufende Jahr sind bereits drei Milliarden vorgesehen. Die Kosten für den Rücktransport der Flüchtlinge aus Griechenland und ihre Umverteilung soll die EU zusätzlich tragen, so der türkische Vorschlag. Nicht ganz klar ist, wie der Finanzbedarf der Jahre nach 2017 gedeckt werden soll.

Die Türkei möchte, dass ihren Staatsbürgern bereits von Juni an der visafreie Reiseverkehr in die Europäische Union erlaubt wird. Dieser Schritt war bislang erst für den Oktober vorgesehen. Viele EU-Dplomaten befürchten, dass die Türkei nach wie vor nicht alle formalen Bedingungen für visafreien Reiseverkehr erfüllt. Dazu gehören zum Bespiel fälschungssichere Ausweise und ein funktionierendes Rückführungsabkommen für türkische Staatsbürger aus der EU.

EU muss sich auf interne Verteilung von Flüchtlingen einigen

Damit das von der Türkei avisierte System funktioniert, müsste die Europäische Union eine schwer zu bestimmende Anzahl von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei auf ihrem Territorium unterbringen. Bislang waren die Mitgliedsstaaten nicht bereit, eine Verteilung nach Quoten zu beschließen oder auch nur freiwillig zu organisieren. Im Sommer hatten die Mitlgliedsstaaten beschlossen 160 000 Menschen aus Italien, Griechenland und Ungarn zu verteilen. Dieser Plan scheiterte aber. Bisher sind knapp unter 1000 Flüchtlinge auf diese Weise verteilt worden.

Der türkische Ministerpräsident, der mittlerweile das NATO-Hauptquartier in Brüssel besucht, will am Abend zu den EU-Staats- und Regierungschefs zurückkehren, um deren Antwort auf seinen Vorschlag zu erfahren. Die 28 Delegationen beraten zur Stunde im Gipfelgebäude über das große Tauschgeschäft, das manche Diplomaten entfernt an einen Basar erinnert. Nach Angaben eines Sprechers der Ratspräsidentschaft sei es auch möglich, dass eine Entscheidung nicht mehr am Montag falle, sondern auf den nächsten regulären Gipfel der EU Ende kommender Woche verschoben werde. Viele Fragen seien kompliziert und müssten geprüft werden, heißt es von den Gipfelteilnehmern. Was passiert etwa mit Menschen, die aus der Türkei nach Griechenland übersetzen und dort sofort einen Asylantrag stellen oder eine Anerkennung als Flüchtling verlangen? Können die auch zurück geschoben werden, gegen ihren Willen? Mit Gewalt?

Brüssel EU-Türkei Gipfel- Angela Merkel
Merkel: Überraschender, aber bedenkenswerter Vorschlag aus AnkaraBild: Reuters/F. Lenoir

Die EU müsste die Türkei von sofort an als sicheren Drittstaat betrachten, der einen ausreichenden Schutz für alle Flüchtlinge und Asylbewerber gewährt. Dann wäre ein völliges Abschotten der griechisch-türkischen Grenzen wohl rechtlich vertretbar, glauben einige Diplomaten, die sich dazu aber nicht öffentlich äußern wollen. Die Frage ist außerdem, ob die EU bereit ist, jährlich hohe Milliardensummen für die Flüchtlings-Fürsorge in der Türkei aufzubringen. Die Bundeskanzlerin, so hört man in Brüssel, könne sich durchaus für den türkischen Vorstoß erwärmen. Sie soll erst gestern abend bei einem vertraulichen Vorgespräch mit Ahmet Davutoglu in der türkischen Botschaft in Brüssel von dem "Kein Flüchtling nach Griechenland-Vorschlag" erfahren haben.

Griechenland Lesbos Flüchtlinge im Registrierungszentrum
Bald überflüssig? Hotspot zur Registrierung von Flüchtlingen auf LesbosBild: picture-alliance/dpa/O. Panagiotoupicture-alliance/dpa/O. Panagiotou

Davutoglu: Wir sind bereit für die Mitgliedschaft

Milde lächelnd und sehr selbstbewusst hatte sich der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu schon beim Betreten des Gipfelgebäudes am Montagmorgen der Presse gezeigt. "Es ist klar, dass die Türkei für Europa unentbehrlich ist", sagte Davutoglu mit Blick auf die Flüchtlingskrise. "Wir sind alle Kollegen hier, die Schulter an Schulter stehen", sagte Davutoglu. "Die Türkei ist mehr als bereit, mit allen zusammen zu arbeiten. Die Türkei ist bereit, ein Mitglied der Europäischen Union zu sein." Es gehe ihm nicht nur um Migrationspoltik, sondern auch um bessere Beziehungen der Türkei zu Europa. Ein formaler Schritt ist nach Meinung des türkischen Regierungschefs schon gemacht, denn "dies ist ja immerhin schon der zweite EU-Türkei-Gipfel in drei Monaten."

Die Bundeskanzlerin und mit ihr die EU sind große Schritte auf die Türkei zugegangen, um deren Kooperation in der Flüchtlingsfrage und einen besseren Schutz der EU-Grenze in der Ägäis zu erreichen. "Das ist einer der wichtigeren Gipfel", sagte Merkel vor Beginn des Treffens. Der Türkei komme eine "Schlüsselrolle" zu. Die Türkei solle dabei helfen, die "illegale Migration" in die EU zu stoppen und die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in der Nähe ihrer Heimat zu verbessern. Alle 28 EU-Staaten müssten Verbesserungen für alle Staaten anstreben, also auch für Griechenland. Dort sind derzeit rund 35000 Flüchtlinge gestrandet, weil die mazedonische Grenze geschlossen ist.

Balkanroute bleibt zu

Die Fluchtroute über den Balkan nach Österreich und weiter nach Deutschland soll weiter geschlossen bleiben. "Die Route ist geschlossen", sagte der französische Präsident Francois Hollande. "Wir müssen jetzt Solidarität mit Griechenland und der Türkei zeigen. Diese Maßnahme Österreichs und der Balkanstaaten war von Deutschland noch als "einseitig" und "nicht nachhaltig" kritisiert worden, jetzt wird sie offizielle EU-Politik. Die fast vollständige Schließung der Einreisemöglichkeit von Griechenland nach Mazedonien stellt Griechenland vor das Problem, erstmals Tausende von Flüchtlingen dauerhaft unterbringen zu müssen. "Das Durchwinken ist vorbei", sagte der österreichische Außenminister Sebastian Kurz gestern im ARD-Fernsehen. Das war bereits vom letzten EU-Gipfel beschlossen worden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel widerspricht: "Für alle Länder inklusive Griechenland kann es nicht darum gehen, dass irgendetwas geschlossen wird, sondern darum, dass wir zusammen mit der Türkei eine nachhaltige Lösung finden."

Sollten die Türkei und die EU sich tatsächlich auf die totale Rücknahme aller Flüchtlinge einigen, wäre die Außengrenze der EU komplett abgeriegelt. Dann könnten die internen Grenzkontrollen innerhalb der europäischen Schengenzone wieder aufgehoben werden, hoffen einige EU-Diplomaten.