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Spätes Geld für NS-Zwangsarbeiter

Michael Marek 27. Oktober 2005

Mehr als 1,6 Millionen ehemaliger NS-Zwangsarbeiter haben Entschädigungen von der Bundesrepublik und der deutschen Wirtschaft erhalten. Die Auszahlungen sind fast abgeschlossen, doch das Leid bleibt unvergessen.

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KZ-Häftlinge in Neuengamme bei der ZwangsarbeitBild: dpa

Während des Zweiten Weltkriegs wurden etwa zwölf Millionen Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Sklavenarbeit, so Ulrich Herbert, Professor für neuere Geschichte an der Universität Freiburg, hätte eine gesellschaftliche Dimension besessen: "Die Beschäftigung von ausländischen Zwangsarbeitern beschränkte sich nicht nur auf Großbetriebe, sondern erstreckte sich bis auf die Verwaltung auf die gesamte Wirtschaft, vom Kleinbauernhof bis zur Schlosserei mit sechs Arbeitern, bis hin zur Reichsbahn, den Kommunen, den großen Rüstungsbetrieben, aber auch vielen privaten Haushalten, die eines der 200.000 begehrten, weil billigen und willigen sowjetischen Hausmädchen einsetzten."

Fünf Milliarden Euro Stiftungssumme

55 Jahre mussten vergehen, bis es für die überlebenden Opfer zu einer individuellen Entschädigung kam. Auf Initiative der rot-grünen Bundesregierung wurde im Jahr 2000 die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gegründet. Die Bundesrepublik und Vertreter der deutschen Wirtschaft verpflichteten sich, zu gleichen Teilen insgesamt fünf Milliarden Euro aufzubringen. Anfangs wurde die Stiftung in der Öffentlichkeit heftig kritisiert - etwa von den Opferverbänden. Davon ist mittlerweile nicht mehr viel zu hören.

Bildgalerie Holocaust Gedenkstätte Buchenwald Häftlings-Personal-Karte
Auf dieser Häftlingspersonalkarte sind die erfaßten persönlichen Daten des russischen Zwangsarbeiters Nikolaj Tupikin zu sehen. Im Hintergrund der Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar.Bild: AP

Über 6500 Unternehmen haben sich der Stiftungsinitiative bis heute angeschlossen. Anfänglich ließen sich jene 2,5 Milliarden Euro, zu denen sich die deutsche Wirtschaft verpflichtet hatte, nur langsam einsammeln, Und das obwohl, die Gelder steuerlich abzugsfähig waren. Viele Unternehmen hatten sich jahrzehntelang geweigert, den ehemaligen Zwangsarbeitern zu helfen - spät, aber nicht zu spät, bilanziert Hans-Otto Bräutigam, Vorstandsvorsitzender der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" rückblickend.

"Keine Veranlassung uns hier zu beteiligen"

Die Stiftungsinitiative hatte von sich aus entschieden, dass Firmen, die sich nicht beteiligen, nicht veröffentlicht werden und an einen Pranger gestellt werden. "Die Gründe für Nicht-Beteiligung sind unterschiedlich: Es gab sehr viele Unternehmen die es damals nicht gab und die sagten, wir haben doch keine Veranlassung uns hier zu beteiligen", sagt Bräutigam. Es hätten sich aber auch viele beteiligt, die es damals nicht gab: "Eine bemerkenswerte große Zahl, die keine Verpflichtung gehabt hätten, haben sich beteiligt."

Im Herbst 2005 Wochen werden die letzten Gelder an die Antragsteller ausgezahlt sein - abgesehen von den Fällen, in denen die Antragsteller zwischenzeitlich verstorben sind und die Erben ermittelt werden müssen. Das Alter der ehemaligen Zwangsarbeiter liegt zwischen 60 und 100 Jahren, das heißt auch diejenigen, die während der NS-Herrschaft noch im Kindesalter waren und zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, haben finanzielle Hilfen erhalten.

Freiwillige Zahlungen

Man müsse aber darauf hinweisen, so Bräutigam, dass es sich bei den deutschen Zahlungen nicht um Wiedergutmachungsleistungen oder Entschädigungen im Sinne eines Rechtsanspruches handelt, sondern um freiwillige Zahlungen.

Entschädigt wurden Zwangsarbeiter aus rund 80 Ländern, die meisten von ihnen leben heute in Polen, der Ukraine und Russland. Gerade sie hatten der NS-Staat und die deutsche Industrie am stärksten ausgebeutet. Nach Kriegsende wurden viele der Überlebenden in ihren Heimatländern nicht einmal als Opfer anerkannt. Die ehemalige Sowjetunion etwa verdächtigte die Deportierten, Verräter gewesen zu seien. Viele Zwangsarbeiter vernichteten ihre Papiere - aus Angst, um nicht als Kollaborateure stigmatisiert zu werden. Laut Bräutigam ist ihnen auch nach dem Krieg noch großes Unrecht widerfahren. Mit Aufklärungsarbeit hat die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" dem entgegenzuwirken versucht.

Keine Betrügereien

Viele der osteuropäischen Zwangsarbeiter leben in großer Armut. Die Entschädigungen sind für sie eine große Hilfe gewesen. Die Dauer der Zwangsarbeit habe bei der Höhe der Entschädigung keine Rolle gespielt, sagt der Vorstandsvorsitzende. Ebenso wenig die heutige soziale Stellung. Bräutigam betont, dass es die von Kritikern befürchteten Betrügereien nicht gegeben habe.

Zudem habe die Stiftung regelmäßig prüfen lassen, ob die Gelder auch die richtigen Empfänger erreicht haben. Auch das wäre bis auf Ausnahmen der Fall gewesen, bilanziert Bräutigam. Außerdem sei man bei den Entschädigungszahlungen so schnell und unbürokratisch wie möglich vorgegangen. Was man daran erkenne, so Bräutigam, dass nur fünf Prozent Erben bereits verstorbener Zwangsarbeiter seien. Was aber passiert mit jenen Gelder, die nicht abgerufen wurden, beispielsweise weil es keine Erben mehr gab? "Dieses Geld, das ist bereits entschieden, wird dann den Partnerorganisationen zur Verfügung gestellt für soziale Zwecke, für Altersheime, medizinische Geräte, Rollstühle, Hörhilfen etc. Aber auch in schwierigen sozialen Lagen kann dieses Geld an ehemalige Zwangsarbeiter noch zusätzlich ausgezahlt werden. Darüber entscheiden unsere Partnerorganisationen, sprich diese Gelder werden für soziale Zwecke verwendet", sagt Bräutigam.

Engagierte Erinnerungspolitik

Trotz der positiven Bilanz nach fünf Jahren bleibt die Frage nach Gerechtigkeit und Kompensation: Besteht nicht die Gefahr seitens der Stiftung, die Entschädigung der Zwangsarbeiter sozusagen als eine reine Geldangelegenheit zu behandeln? Bedeutet das nicht auch eine Entweihung der Opfer? "Ja, die Gefahr besteht immer. Umso wichtiger ist es, dass eine solche Entschädigungsleistung verbunden wird mit einer aktiven, engagierten Erinnerungspolitik, um deutlich zu machen, wofür wir das leisten", sagt Bräutigam.

Andererseits waren und sind die Leistungen der Bundesrepublik Deutschland nach materieller Wiedergutmachung beachtlich und historisch einzigartig. Und doch gehört es bis heute zur sozialen und psychischen Situation von ehemaligen Zwangsarbeitern, dass nicht auszugleichen ist, was ihnen widerfuhr. Wer Opfer wurde, blieb es, schrieb der verstorbene Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Jean Améry, wer gefoltert wurde, blieb gefoltert.