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Spinnens Wortschau

31. Oktober 2011

Das Schreckliche nett zu verpacken, das ist eine der wichtigsten Aufgaben politischer Rhetorik. Denn das Schreckliche schreckt die Menschen.

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (Foto: privat)
Burkhard SpinnenBild: Burkhard Spinnen

Und die meisten Menschen sind Wähler, die den Überbringer schrecklicher Botschaften vielleicht nicht töten, aber auch nicht wieder wählen. Daher kommen die bitteren Wahrheiten in eine zuckrige Hülle, die furchtbaren Bilder in einen ansprechenden Rahmen und die grauenhaften Gewissheiten in ein süßes Ungefähr.

Süße Worthüllen

Zum Beispiel: Demographischer Wandel. Das ist die Worthülle, in der momentan die durchaus berechtigte Vermutung steckt, dass die Deutschen aussterben. Faktum ist, dass ständig mehr von ihnen sterben als geboren werden, was bereits zu einer deutlichen Veränderung der Altersstruktur in der Gesellschaft geführt hat und was, wenn es nicht aufhört, schlussendlich zu ihrem Aussterben führen wird. Zeichen einer Änderung aber sind nicht zu sehen. Die Geburtenrate fällt und fällt; und wie alles, was fällt, wird sie irgendwann einmal bei der Höhe Null aufschlagen.

Aber das darf niemand laut sagen. Denn die Menschen, die keine Kinder bekommen, weil es ihr gutes Recht ist, so zu leben, wie sie das wollen – diese Menschen sind auch Wähler. Und sollte ihnen zum Beispiel ein Politiker Vorschriften machen wollen, zu denen er kein Recht hat, dann bestrafen sie ihn, indem sie ihn nicht wählen.

Dilemma Wahrheit

Ein Kleinkind steht vor einer vierköpfigen Gruppe alter Menschen (Foto: dpa)
Weniger Junge für mehr AlteBild: dpa

Natürlich ist das ein Dilemma für die Politiker. Sie müssen aus der Tatsache, dass immer weniger Junge für immer mehr Alte sorgen müssen, das Beste machen, dürfen aber niemandem, der für diese Tatsache verantwortlich ist, irgendwie zu nahe treten. Also lassen sie das böse Wort Aussterben weg und sagen stattdessen Demographischer Wandel.

Wandel lässt hoffen, dass auf der anderen Seite der Wandlung auch etwas Hübsches zum Vorschein kommt, vielleicht eine Seniorenrepublik mit dramatisch reduzierter Gewaltkriminalität und praktisch staufreien Autobahnen. Wandel kann immer auch der Wandel zum Besseren sein, während die positiven Assoziationen zu Aussterben sich nur einstellen, wenn man an Krankheiten oder Ungeziefer denkt und nicht an sich selbst oder seine Familie und Nachbarn.

Ich weiß, ich rühre hier an ein heikles Thema. Immer schon sollte und endlich kann auch jeder nach seiner Fasson selig werden, zum Beispiel ohne Kinder. Das Mutterkreuz und ähnlichen Barbarenunfug haben wir zum Glück hinter uns gelassen.

Aber auch die heiklen Folgen der Freiheit verdienen ihren richtigen Namen; sie verdienen die Wahrheit, die, so eine deutsche Dichterin, dem Menschen zumutbar ist. Und diese Wahrheit heißt nicht: Demographischer Wandel.


Autor: Burkhard Spinnen
Redaktion: Gabriela Schaaf

Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).