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Stachel im System

12. Oktober 2009

Der chinesische Künstler Ai Weiwei ist ein rigoroser Kritiker des chinesischen Systems. München zeigt nun eine Ausstellung. Sie heißt "So Sorry" - eine politische Anspielung ohne Konsequenzen?

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Porträt Ai Weiwei
Künstler mit politischem Engagement: Ai WeiweiBild: picture-alliance/dpa

Die Fassade des Münchner Hauses der Kunst ist zur Ausstellungsfläche geworden. An der über hundert Meter langen Front hängen 9000 Plastikrucksäcke, in weiß, rot, blau, gelb und grün. Die farbliche Anordnung der Rücksäcke ergibt einen Satz: Sieben Jahre lang lebte sie glücklich auf dieser Welt. Das hat eine trauernde Mutter über ihre Tochter gesagt, die 2008 beim Erdbeben in der Provinz Sichuan ums Leben kam, als ihre Schule kollabierte und das Mädchen unter sich begrub. "Die Schulgebäude sind eingestürzt, tausende von Menschen sind verschwunden, auch tausende von Kindern, aber die Regierung will die Namen nicht bekannt geben", sagt Ai Weiwei.

Haupteingang des Haus der Kunst in München, Außenfassade. Foto: dpa
Tausende sind verschwunden: "Dieser Nation sind die Rechte der Armen egal."Bild: picture-alliance/dpa

Die Schriftzeichen stehen wie eine Anklage im Herzen Münchens. Noch bevor man die Ausstellung überhaupt gesehen hat, lenken sie die Aufmerksamkeit auf korrupte Politiker in China. Denn die macht Ai Weiwei für den Tod von tausenden von Schulkindern verantwortlich. Er glaubt, dass beim Bau der Schulhäuser gepfuscht wurde, nur deswegen seien so viele eingestürzt. Aber: "Dieser Nation sind die Rechte der Armen egal", klagt Ai Weiwei.

Ai Weiwei zerstört, um zu mahnen

Ai Weiweis Kunst ist Ausdruck seines politischen Engagements in China, seine Werke geißeln die aktuellen Veränderungen. So überzieht er neolithische Vasen, die mehr als 6000 Jahre alt sind, mit billiger grellbunter Industriefarbe. Und er arbeitet mit dem Holz und den Tischen jahrhundertealter Tempel, die abgerissen wurden, um modernen Wohn und Shoppingkomplexen zu weichen. In mehreren Werken treibt er dicke, rund 30 Zentimeter breite Holzstämme durch die antiken, hölzernen Tischplatten. Die so entstandenen neuen Objekte wirken brachial und elegant zugleich. "Während der Kulturrevolution war man ein guter Maoist, wenn man sehr wertvolle Dinge zerstörte. Und wir hegen für historische Artefakte heute immer noch keinen Respekt", sagt Ai Weiwei. Vor dem Hintergrund der traditionellen chinesischen Ästhetik spiegeln diese Werke die Brutalität der Modernisierung wider, die alles Alte hemmungslos niederreißt.

Bunt bemalte antike Vasen. Foto: Silke Ballweg / DW
Billige Industriefarbe auf jahrtausende alten VasenBild: DW

Das Vertuschte, Verborgene sichtbar machen

Es gehört zum Wesen von Diktaturen, das Wissen und die Erinnerung kontrollieren zu wollen. In China haben die meisten jungen Menschen noch nie etwas über die Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni 1989 gehört. Auch die Propaganda der Nationalsozialisten im Deutschland der 30er Jahre bestimmte, was erinnert werden durfte und was nicht. Ai Weiwei greift diese Kontrolle im Münchner Haus der Kunst auf, weist er doch darauf hin, dass Hitler das Gebäude für die deutsche Kunst bauen ließ. Für das, was er als nicht-entartet betrachtete. In der großen Mittelhalle des Gebäudes hat Ai Weiwei einen 35 Meter langen Teppich ausgerollt. Auf den ersten Blick ist der gar nicht zu erkennen, denn er nimmt exakt die Farben und die Maserung der originalen Bodenfliesen auf. Auf diesen Teppich hat Ai Weiwei gut 100 gigantische Wurzeln und Baumteile gestellt, das, was unter der Oberfläche liegt, wird bei ihm nach oben gekehrt, das, was immer schon da war, sichtbar gemacht.

Stachel im System

Objekte aus dem Holz abgerissener, jahrhundertealter Tempel. Foto: Silke Ballweg / DW
Zerstören um zu Ermahnen: Objekte aus dem Holz abgerissener, jahrhundertealter TempelBild: DW

"Ich bin geradezu gezwungen, mich mit dem System zu beschäftigen, denn wenn ich nichts sage, dann bin ein Teil des Systems", sagt Ai Weiwei. "Aber weil ich in Peking lebe, muss ich mich als Künstler politisch mit China auseinandersetzen." Deswegen wird er wohl auch immer wieder nach China zurückkehren. Denn Ai Weiwei will ein öffentlicher Kritiker, ein Stachel im System sein.

Autorin: Silke Ballweg

Redaktion: Elena Singer