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Neue religiöse Bewegungen

19. November 2011

Weltweit erstarken neue religiöse Bewegungen. Sie verändern das Stadtbild, sind wirtschaftlich aktiv und mischen sich in die Politik ein. Einblicke ermöglicht die Ausstellung "the Urban Cultures of Global Prayers".

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Kinshasa, Evangelization Truck of The Church Assemblee de Dieu (Foto: Gilles Aubry)
Kinshasa, "Evangelization Truck of The Church Assemblee de Dieu"Bild: Gilles Aubry

Berlin und Religion, das wollte lange Zeit gar nicht zusammenpassen. Die Stadt galt als eine der ungläubigsten der Welt. Doch das ist Vergangenheit. Über 300 Religionsgemeinschaften haben Wissenschaftler bereits vor ein paar Jahren in der deutschen Hauptstadt ausgemacht. Und langsam, aber unübersehbar verändern die die urbane Topographie. In aufgegebenen Supermärkten und leerstehenden Lagerhallen werden Gottesdienste abgehalten und soziale Dienste abgeboten – beispielsweise für Mitglieder von Moscheevereinen oder gleich für die ganze Nachbarschaft. In der Hasenheide, einem großen innerstädtischen Park, entsteht derzeit ein Hindu-Tempel zum Beten und auch, um einen Beitrag zur Befriedung des sozialen Brennpunkts Neukölln zu leisten. In anderen Stadtteilen arbeiten islamische Gemeinden gemeinsam mit Kirchen und Wohlfahrtsverbänden bereits aktiv an einer Verbesserung der Lebensverhältnisse.

Lagos Film Workshop Moving Towards Redemption, 2011 (Foto: Jens Winkel) Foto: Jens Winkel
Lagos Film Workshop Moving Towards Redemption, 2011Bild: Jens Winkel

Die Beispiele sind der Einleitung des Buches "Urban Prayers – Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt", herausgegeben von "metroZones", entnommen. Der Band, soeben erschienen, ermöglicht einen vielschichtigen Blick auf neue religiöse Bewegungen und Organisationen in verschiedenen Regionen der Welt. Er ist Teil eines transdiziplinären Kultur- und Forschungsprojekts, das erkundet, wie Religion städtische Räume hervorbringt und verändert und wie umgekehrt das Städtische neue Religiositäten hervorbringt. Zu diesem Projekt gehört auch eine Ausstellung, die in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in der Berliner Oranienstraße zu sehen ist: "the Urban Cultures of Global Prayers". In vier Räumen, die sich weiß-schwarz-weiß-schwarz wie Licht und Schatten aneinanderreihen, stellen Künstler und Künstlerinnen aus zwölf Ländern schlaglichtartig verdichtete Momentaufnahmen aus Lagos, Mumbai, Rio de Janeiro sowie Berlin und Istanbul zur Diskussion.

Glaube und Stadt

Im Istanbuler Stadtteil Basaksehir ist die Mittelklasse zu Hause. Alles ist dort hell, freundlich und ziemlich neu - die Wohnungen, die Supermärkte, die Einkaufszentren. Was stört, sind die Zäune, das grelle Licht und die Wachmänner. Basaksehir ist eine sogenannte "Gated Community", hier leben Muslime, die dem Konsum frönen, obwohl der Koran gebietet, "nicht verschwenderisch zu sein". Vor wem oder vor was, fragt Sevgi Ortacs Video-Installation, fürchten sie sich? Und was für neue Grenzen tun sich hier auf?

Todos los ostros, nosotros/All the others, the we. 2012 (Foto: Veronica Mastrosimoe) Foto: Veronica Mastrosimoe
Veronica Mastrosimoe: Todos los ostros, nosotros/All the others, the we. 2012Bild: Veronica Mastrosimoe

14 Arbeiten, überwiegend aus dem Bereich der Fotografie und des Videos, präsentiert die Ausstellung. Und sie setzt dabei ganz auf die Kraft der Exponate. Bewerten wollen weder Künstler noch Initiatoren das weltweit auszumachende Phänomen religiöser Bewegungen. Ihnen ist zunächst daran gelegen, dass sie überhaupt Beachtung finden, mit ihren unterschiedlichen regionalen Ausprägungen. Denn was in Berlin im Kleinen zu beobachten ist, hat andernorts längst die städtische Kultur durchdrungen. Dabei fällt auf, dass es insbesondere neuartige religiöse Gruppierungen sind, denen weltweit eine wachsende Bedeutung zukommt. Eine Vielfalt von Pfingstkirchen dominiert die einst katholischen Metropolen Lateinamerikas, und im indischen Mumbai prägt die hindu-nationalistische Bewegung Shiv Sena auch die offizielle städtische Politik. In Rio konvertieren Kinos zu Kirchen, in Mumbai werden öffentliche Räume zur Bühne religiöser Spektakel.

Religion und Ökonomie

In Nigeria ist die Pfingstbewegung längst zu einer ernstzunehmenden gesellschaftlichen Kraft geworden und zu einem milliardenschweren Imperium. Möglich wurde das, weil die gesellschaftspolitische Entwicklung infolge wirtschaftlicher und politischer Umbrüche seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ins Stocken geraten ist. Die sich ausbreitende Religion hat also teilweise den zunehmend machtlosen Staat ersetzt. Die Pastoren der Pfingstkirche, erzählt Jochen Becker, bei "metroZones" Mitglied der Arbeitsgruppe "Urban Cultures of Global Prayers", stammen überwiegend aus der Elite des Landes. Sie seien gebildet, hätten Geld und würden Pastor, um Einfluss nehmen zu können sowie weiter aufzusteigen.

RCCG (Redeemed Christian Church of God), Prayer Camp, KM 42 Lagos Ibadan Expressway (Foto: Sabine Bitter) Foto: Sabine Bitter/Helmut Weber
Prayer Camp LagosBild: Sabine Bitter/Helmut Weber

Wie alle neueren religiösen Ausprägungen sind, so die Einschätzung des Forschungsprojekts "Urban Prayers", auch die Pfingstkirchen sehr diesseitig und weltlich orientiert. Sie denken unternehmerisch und nutzen alle Medien bis hin zur Filmindustrie, um christliche Inhalte zu sponsern. Und auch, weil jeder in Nigeria zutiefst mit der Religion verbunden ist, finden sie enormen Zuspruch. Die größte Pfingstkirche in Lagos fasst fünfmal mehr Gläubige als das weltgrößte Fußballstadion, am Rande der Megastadt entsteht eine eigene "City of God".

Religion und Expansion

Doch damit nicht genug: die Pfingstkirche breitet sich längst über die Grenzen Nigerias hin aus. Sie filialisiert in vielen afrikanischen Ländern, ermöglicht Migrationen, begleitet Menschen auf ihren Wegen in die neue Heimat bis hin nach Großbritannien und hilft dort wiederum bei der Integration. Zwischen Nigeria und Europa gebe es längst, so Jochen Becker, feststehende Migrationsbrücken. An wichtigen Kontenpunkten helfen nigerianische Pastoren den Menschen, wo immer es nötig ist: mit Gebeten, Geld, Nahrung und auch mit einem Friseur. Die Kirche leistet, so heißt es in der Einleitung des Bandes "Urban Prayers", konkrete Überlebens-, Orientierungs- und Integrationshilfen, die von vielen säkularen Organisationen nicht geboten werden. Allein das ist ein Grund, sich intensiver mit der Thema zu beschäftigen!

Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Gudrun Stegen