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"Stalin wäre wirklich sehr wütend"

17. März 2005

Die lettische Präsidentin Vike-Freiberga erklärt im DW-WORLD-Interview, was der 60. Jahrestag des Kriegsendes für sie persönlich bedeutet und warum sie zur offiziellen Feier nach Moskau fährt - trotz alledem.

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Vaira Vike-Freiberga, Präsidentin der Republik LettlandBild: dpa

DW-WORLD: Der russische Präsident Putin hat zu den Feiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 9. Mai die Staatsoberhäupter aller Länder eingeladen, die gegen das Dritte Reich gekämpft haben. Die Staatspräsidenten Estlands und Litauens haben ihre Teilnahme an den Feierlichkeiten abgesagt, Sie dagegen werden hinfahren. Anfangs sollen auch Sie - so werden sie zumindest in mehreren Medien zitiert - die Einladung als "Beleidigung" bezeichnet haben. Was hat Sie umgestimmt?

Vaira Vike-Freiberga: Ich erinnere mich nicht, so etwas gesagt zu haben. Das Gefühl bei allen baltischen Staaten war, dass es sehr schwierig ist, diesen Termin zu feiern. Denn am Endes des Zweiten Weltkrieges wurden wir von der Sowjetunion besetzt und blieben lange 50 Jahre unter dieser Besetzung. Deshalb gibt es in diesem Sinne nichts zu feiern. Zugleich war es natürlich das Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Russen feiern es, weil es ein Sieg über den Nationalsozialismus und das Hitler-Regime war. Für die Russen ist es ein Tag der Freude und der Erinnerung an die heroischen Taten der Roten Armee. Ich habe entschieden nach Moskau zu fahren, weil ich glaube, dass wir an die Zukunft denken müssen und an den symbolischen Wert des Endes des Zweiten Weltkrieges, aber ich wollte Herrn Putin und alle anderen Staatsoberhäupter daran erinnern, dass das für Lettland leider auch ein sehr trauriges Datum ist.

Mehr Informationen zu Lettland finden Sie auf der DW-WORLD-Europakarte

Das lettische Volk hat doch in der Tat sehr schwer unter der russischen Besatzung gelitten. Wie hat es denn auf Ihre Entscheidung reagiert?

Ich glaube, anfangs wurde es als Provokation wahrgenommen: Nach Moskau dürfe doch keine Lette hinfahren und den Sieg der Roten Armee über sein eigenes Land feiern. Das ist wohl auch der Grund, dass der estnische und litauische Präsident nach langem Zögern entschieden haben, zu Hause bei ihrem Volk zu bleiben. Aber in Lettland gab es eine breite Diskussion darüber. Ich habe eine sehr große Unterstützung von der Regierung, vom Parlament, vom Volk über diese Zwiespältigkeit des Datums. Es geht darum zu erklären, was die Geschichte für uns als Letten und Lettland bedeutet, aber auch darum den guten Willen Lettlands zu zeigen, eine Freundschaftsgeste gegenüber Russlands zu zeigen. Wir wollen doch alle zusammen ein neues Europa aufbauen, wohin solche Kriege wie der zweite Weltkrieg nie mehr zurückkehren.

Man könnte Ihre Reise als Zeichen der Versöhnung werten. Kann man nicht auf der anderen Seite erwarten, dass Russland die Gelegenheit nutzt, die Okkupation der baltischen Staaten anzuerkennen?

Das habe ich betont in meinem Brief an Präsident Putin. Ich glaube, es ist sehr schwierig für den Präsidenten und das russische Volk anzunehmen, dass es eine Okkupation war. Ich weiß nicht, ob es nur eine emotionale Frage ist oder ob sie sich davor fürchten, dass die Letten Kompensationen fordern. Ich glaube, die fürchten sich vor diesen juristischen Möglichkeiten.

Ist diese Furcht denn begründet?

Es gibt ja sehr viele Menschen, die viel verloren haben, Vermögen oder das Leben ihre Familienmitglieder, da hat Lettland ja wirklich sehr viel verloren. Aber in diesem Moment gibt es in unserem Parlament niemand, der nach Kompensationen verlangt.

Werden Sie Putin am 9. Mai sprechen können und ihm persönlich sagen, was Sie in ihrem Brief geschrieben haben, nämlich dass er die Okkupation anerkennen soll?

Ich habe den Brief geschrieben, aber noch keine Antwort von ihm bekommen. Ich habe aber eine Menge anderer, sehr schöner Briefe bekommen und die haben mir gesagt, dass sie verstehen, wie schwierig es für Lettland ist, an dieses Datum zu erinnern, dass sie verstehen, dass das lettische Volk viel Leid durchgemacht hat. Sie unterstützen mich aber auch in der Wahl, nach Moskau zu fahren.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk haben Sie gesagt, "Stalin würde sich in der Hölle umdrehen, wenn er wüsste, dass Sie nach Russland fahren". Wie haben Sie das gemeint?

Stalins Ziel war es ja, ein Imperium aufzubauen, er wollte die Weltrevolution. Und Stalin und seine Propaganda haben immer gesagt, es wäre ein großer Gewinn für dieses Imperium, die baltischen Staaten der Sowjetunion einzuverleiben. Wenn er also wüsste, dass eine Präsidentin eines unabhängigen Lettlands in Moskau wäre, dann wäre er wirklich sehr wütend.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum die Letten Deutsche heute sympathisch finden und welche persönlichen Erinnerungen die lettische Präsidentin an Deutschland hat.

Die lettische Bevölkerung scheint in ihrem Verhältnis zu Russland und Deutschland eher gespalten. Am 16. März gab es einen Umzug von lettischen Veteranen der Waffen-SS, die an diesem Tag traditionell ihrer gefallenen Kameraden gedenken. Es gab Gegendemonstranten, es kam sogar zu einem Handgemenge. Was haben Sie denn gedacht, als Sie die Meldung hörten?

Die alten Veteranen des Zweiten Weltkrieges gehen an diesem Tag in die Kirche, um ihrer gefallenen Kameraden zu gedenken, dann bringen sie Blumen zu dem Friedensdenkmal, da so viele Menschen kein Grab haben. Der Bruder meines Vaters zum Beispiel war irgendwo in Weißrussland gefallen und ist da geblieben. Die Letten wurden ja von der Wehrmacht einfach eingezogen, das war nicht im Einklang mit dem internationalen Recht, sie hatten keine freie Wahl. Diese Erinnerung ist jetzt politisiert. Es gibt viele extremistische russische Gruppen, meist die Nationalbolschewisten, die die Erinnerung der alten Männer politisieren wollen und sagen, das ist ein Zeichen, dass Lettland und alle Letten faschistisch sind. Und da sind gleichzeitig auch extreme rechte Gruppen, die da mitziehen. Die Regierung erkennt diese Extremisten beider Seiten nicht an. Ich habe als Präsidentin eine offizielle Erklärung darüber abgegeben, dass wir in Lettland nichts Extremistisches haben wollen. Aber was die Leute privat tun, in Erinnerung an ihre Kameraden, das kann ihnen keiner verbieten.

Von russischer Seite wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, Lettland diskriminiere die russische Minderheit. Wie stehen Sie dazu?

Man müsste definieren, was man unter Diskriminierung versteht. Um die Staatsangehörigkeit von Lettland zu bekommen, müssen sie lettisch sprechen, nicht perfekt, aber doch ein bisschen. Sie müssen außerdem eine leichte Prüfung ablegen. Man fragt zwei Strophen der Hymne ab und es gibt ein paar Fragen zu unserer Verfassung. Es ist ganz einfach. Und da gibt es Leute, die sagen, das ist die Unterdrückung von Minderheiten, wenn man so etwas fragt. Und für uns ist so etwas ganz normal.

Es gibt also keine Diskriminierung?

Natürlich ist da ein Unterschied zwischen Staatsbürger und Nichtstaatsbürger. Aber die Gelegenheit, Staatsbürger zu werden ist doch da. Die Leute können die Gelegenheit wahrnehmen oder nicht.

Wie stehen die Letten denn heute zu Deutschland?

Ich glaube, die Letten haben viel Sympathie für Deutschland. Das ist ein Land, das uns viel geholfen hat. Seit dem Jahr 1991, in dem wir unsere Unabhängigkeit wiederbekommen haben, ist Deutschland unser Wirtschaftspartner Nummer Eins und ein Beispiel dafür, wie ein Land sich nach dem Krieg wieder aufbauen kann, und ein reiches und erfolgreiches Land wieder werden kann.

Eine persönliche Frage: Was bedeutet für Sie der 60. Jahrestag des Kriegsendes? 1945 waren Sie ja nach Deutschland geflohen und in einem Flüchtlingslager untergekommen?

Ich habe keine frohen Erinnerungen an die Zeit als Flüchtlingskind. Als wir weggingen, mussten wir alles zurücklassen: mein Zuhause, meine Großeltern, die Familie. Einen Monat nach der Abreise starb meine kleine Schwester. Wir waren alle krank, hungrig, haben die Bombardierungen in Norddeutschland erlebt. Nachher im Flüchtlingslager haben wir noch viele Jahre Hunger und Kälte erlebt, das war für mich und viele andere eine sehr schwere Zeit. Wir konnten später nicht nach Lettland schreiben. Der eiserne Vorhang war ja da. Wir wussten nicht wer lebte und wer nicht. Wenn ich daran denke, sage ich, Gott sei Dank ist es jetzt 60 Jahre später. Ich möchte nicht in diese Zeit zurückkehren.

Es gibt noch einen Stichtag in diesem Jahr: Am 1. Mai jährt sich der EU-Beitritt Lettlands zum ersten Mal. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie?

Die Wirtschaftwachstum ist noch gestiegen. Es waren jetzt 8,5 Prozent, im Jahr davor nur 7,2 Prozent. Auch die Investitionen sind stark gestiegen. Ein Minus ist, dass wir auch Inflation gehabt haben. Aber ansonsten: Die Stimmung ist sehr gut und wir werden den 1. Mai zusammen mit dem 4. Mai, dem 15. Jubiläum unserer neuen Unabhängigkeit, feiern.

Das Gespräch führte Steffen Leidel