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"IS schürt innenpolitische Konflikte"

Diana Hodali / nin30. Juni 2016

Wieder gab es einen Anschlag in Istanbul. Wieder soll es der IS gewesen sein. Doch bekannt hat sich die Terrormiliz noch nicht. Terrorismusexperte Guido Steinberg analysiert die Taktik, die dahinter steckt.

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Symbolbild IS-Kämpfer (Foto: ZUMAPRESS)
Bild: picture alliance/ZUMA Press/Medyan Dairieh

DW: Herr Steinberg, nach dem Anschlag auf den Flughafen in Istanbul hieß es aus türkischen Regierungskreisen sofort, der "Islamische Staat" stecke dahinter. Bis dato hat der IS aber noch keine Verantwortung dafür übernommen. Ist er es überhaupt gewesen?

Guido Steinberg: Ja, es war der IS. Dafür spricht vor allem die Anschlagsform. Es hat sich in den letzten Monaten abgezeichnet, dass dieses Modell 'Feuerüberfall', zusammen mit anschließenden Selbstmordattentaten typisch für den IS wird. Wir hatten ähnliche Szenarien in Paris und in Brüssel. In Brüssel allerdings ohne Feuerüberfall.

In der Vergangenheit hat sich der IS nie besonders lautstark zu Anschlägen in der Türkei geäußert, die der Terrormiliz zugeschrieben werden. Im Gegensatz dazu übernimmt der IS bei vielen anderen Anschlägen immer relativ zeitnah die Verantwortung. Wieso nicht in der Türkei?

Ich denke, dass dieses Schweigen zwei Gründe hat. Zum Einen hat der IS in den Jahren 2012-2015 enorm davon profitiert, dass die Türkei seine Präsenz auf türkischem Boden geduldet hat. Die Türkei war ein wichtiges Rückzugsgebiet, aber auch der Ort, wo Logistik und Nachschub abgewickelt wurden. Heute geht die Türkei zwar effektiver und aggressiver gegen den IS vor, aber es gibt diese Bindungen immer noch. Wahrscheinlich möchte der IS die türkische Regierung nicht Übergebühr provozieren. Der zweite Grund dürfte sein, dass der IS versucht, in der Türkei innenpolitische Konflikte zu schüren. In der Vergangenheit haben türkische Politiker häufig nach Anschlägen des IS zunächst - wahrscheinlich wider besseren Wissens - die PKK verantwortlich gemacht. Das hat zu einer enormen Zunahme von Spannungen zwischen den Kurden und der Regierung geführt.

Warum lässt die Türkei das zu?

Guido Steinberg (Foto: DW)
Bild: DW

Die Türkei befindet sich, nach Ansicht ihrer Regierung, in einem Zweifrontenkrieg - einerseits gegen den IS, andererseits gegen die kurdische PKK. Die türkische Regierung hat sich im Sommer 2015 entschlossen, den Friedensprozess mit der PKK zu beenden und stattdessen auf eine militärische Lösung zu setzen. Die Bekämpfung der PKK ist absolute Priorität. Diese Ausgangslage macht es für den IS erst möglich, innenpolitische Konflikte zu schüren. Es liegt in der Hand der türkischen Regierung, das zu ändern, indem sie den Friedensprozess mit den Kurden wieder aufnimmt.

Macht diese Priorisierung denn Sinn?

Man kann sie zumindest nachvollziehen, wenn man sich die Geschichte des Konfliktes mit der PKK anschaut, der weitaus mehr Opfer gefordert hat als der Konflikt mit dem IS. Wenn man sich allerdings die Anschläge der letzten Monate anschaut, dann halte ich das für eine Fehlinterpretation. Die größere Bedrohung für die Türkei ist der IS, weil die Regierung es zulässt, dass der IS diesen innenpolitischen Konflikt zwischen Türken und Kurden, Regierung und PKK ausnutzt.

Explosionen und Schüsse am Flughafen in Istanbul (foto: Reuters)
Der jüngste Anschlag des IS: Am Istanbuler Flughafen Atatürk töteten Attentäter mindestens 43 MenschenBild: Reuters/I. Coskun

Außerdem sind die Auswirkungen durch IS-Anschläge gravierend für die Türkei - nicht zuletzt für den Tourismus. Was wird die türkische Regierung konkret gegen den IS unternehmen?

Die Türkei - das muss man ihr zugute halten - hat das Problem IS nicht vollkommen ignoriert. Zumindest seit den Anschlägen in Suruc, Diyarbakir und Ankara 2015 hat sie Maßnahmen ergriffen: Sie hat IS-Anhänger verhaftet und versucht, ihre Infrastruktur im Land zu zerstören. Die Regierung hat der US-Luftwaffe und ihrer Militärkoalition Flugplätze bereit gestellt, von denen aus sie den IS in Syrien bekämpfen. Offensichtlich haben diese Maßnahmen aber nicht ausgereicht. Die türkische Regierung hat 2012-2015 zugelassen, dass der IS eine sehr weit verzweigte, ausgeklügelte und gut gesicherte Infrastruktur in den Städten der Türkei entwickelt. Die türkischen Sicherheitsbehörden sind offenbar nicht in der Lage, diese Strukturen vollständig zu zerschlagen. Ohne dass die Bekämpfung des IS zur Priorität wird, wird es auch weiterhin nicht gelingen, das Problem in den Griff zu bekommen.

Welches langfristige Ziel steckt hinter der Taktik des IS, innenpolitische Spannungen in der Türkei zu provozieren?

Integraler Bestandteil der Strategie des IS ist es, zunächst im Irak und dann in Syrien einen islamischen Staat zu gründen und den bewaffneten Kampf anschließend auf die Nachbarstaaten auszuweiten, um auch dort die Macht zu übernehmen. Es gibt aber noch einen zweiten Aspekt, der eine wichtige Rolle spielt. Der IS hängt der Vorstellung an, dass die Apokalypse naht. In sunnitischen Überlieferungen steht geschrieben, dass es im Zuge dieser Apokalypse zu mehreren Schlachten zwischen den Muslimen und ihren ungläubigen Gegnern kommen wird. Zumindest eine dieser Schlachten wird in Nordsyrien stattfinden. Der IS möchte das Eintreten dieser Prophezeiung beschleunigen, indem er die Türkei und ihre Verbündeten dazu bewegt, Bodentruppen zu schicken. Denn in der berühmtesten dieser Prophezeiungen heißt es, dass eines Tages Truppen aus Ostrom - also der heutigen Türkei - anrücken, die dann vom Heer der Muslime bei dem Ort Dabiq in Nordsyrien, in der Gegend nördlich von Aleppo, geschlagen werden. Das ist der religiös-ideologische Hintergrund des Versuchs des IS, seine Gegner zu provozieren, damit diese Bodentruppen schicken.

Und damit eine größere Legitimation für die Gründung eines Kalifats herstellen kann?

Genau. Der IS glaubt, er kann diese Truppen schlagen und dann sein Herrschaftsgebiet weit über den Irak und Syrien ausweiten.

Guido Steinberg ist Nahost- und Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Von 2002 bis 2005 war er Referent für internationalen Terrorismus im Bundeskanzleramt.

Das Gespräch führte Diana Hodali.