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Stereotype gegen Juden überdauern

Klaus Jansen7. Dezember 2014

Juden seien reich - aufgrund dieses Vorurteils haben Jugendliche in Frankreich ein jüdisches Paar brutal überfallen. Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt sprunghaft - kein Einzelfall in der Geschichte Frankreichs.

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Jüdische Gräber im Elsass geschändet (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Am Sonntag sind im Pariser Vorort Créteil viele Menschen auf die Straße gegangen, weil sie ein Zeichen setzen wollten. Gegen Judenfeindlichkeit und gegen Gewalt. Der Überfall auf ein junges jüdisches Paar in Créteil hat in dieser Woche Frankreich schockiert. Die jungen Täter hatten sich ihre Opfer offenbar ausgesucht, weil sie Juden waren - deshalb vermuteten sie, dass sie über viel Geld verfügten. Das sollen sie beim Eindringen in die Wohnung der beiden auch gesagt haben. Sie raubten das Paar aus, vergewaltigten die Frau und verschwanden. Mittlerweile sind drei mutmaßliche Täter gefasst.

Das wirft die Frage auf, wie antisemitisch die französische Gesellschaft mittlerweile denkt. Denn Übergriffe auf Juden und jüdisches Eigentum nehmen in Frankreich gerade stark zu. Von Farbschmierereien wie "Juden raus" bis zur schweren Körperverletzung: Allein bis zum Sommer registrierte das Innenministerium mehr als 500 antisemitische Vorfälle, mehr als im gesamten vergangen Jahr. Auch Synagogen und jüdische Geschäfte wurden angegriffen, vor allem im Juli während des Gazakrieges. Premierminister Manuel Valls sprach von einer "neuen Form von Antisemitismus". Jetzt wählt er drastischere Worte und schreibt vom "Horror von Créteil". Der Kampf gegen Antisemitismus sei ein täglich neu zu führendes Gefecht, so der Regierungschef. Innenminister Bernard Cazeneuve nannte den Antisemitismus bei der Kundgebung in Créteil am Sonntag gar eine "soziale Krankheit".

Sonderstellung Frankreichs

Wie in vielen anderen Ländern haben auch in Frankreichs Geschichte die Regierenden immer wieder Juden vertrieben. Dennoch hat das Land eine Sonderstellung inne, betont die Berliner Historikerin Marie-Christin Lux. "Seit der französischen Revolution gibt es große jüdische Gemeinden in Frankreich, das Land war das erste, das den Juden Bürgerrechte verliehen hat, lange vor Deutschland oder osteuropäischen Ländern." Viele Juden fühlten sich in Frankreich heimisch, sähen sich zunächst als Franzosen und dann erst als Juden. Wenn man Umfragen glaubt, dann sehen immer mehr Franzosen das nicht so. Etwa 40 Prozent der Anhänger der erfolgreichen rechtsgerichteten Partei Front National finden, dass Franzosen jüdischen Glaubens nicht so französisch seien wie andere Franzosen. Das ist das Ergebnis einer Studie über neuen Antisemitismus, die die Denkfabrik Fondapol erstellt hat.

Die Studie bestätigt auch, wie weit Vorurteile verbreitet sind. Fast jeder fünfte Befragte sagte, Juden hätten zu viel politische Macht, jeder vierte hält den Einfluss von Juden auf die Finanzwelt für zu groß, und jeder zehnte würde sich gegen einen jüdischen Arbeitgeber entscheiden. "Diese Stereotype waren und sind milieuübergreifend in Frankreich verwurzelt", meint Historikerin Lux. Das sei nicht nur ein Problem der extremen Rechten. "Die Vorstellung vom reichen Juden, der viel Einfluss in der Wirtschaft hat, war schon im 19. Jahrhundert sehr präsent." Die alten Stereotype vom wirtschaftlich machtvollen Juden vermischen sich mittlerweile auch mit einem negativen Israel-Bild, das gerade linksgerichtete Franzosen haben. Sie kritisieren lautstark ein unverhältnismäßiges Vorgehen Israels im Gazastreifen in diesem Sommer, als hunderte Menschen starben.

Marie-Christin Lux, Historikerin an der TU Berlin (Foto: privat)
Entdeckt Parallelen zur Vergangenheit: Historikerin Marie-Christin LuxBild: privat

Perspektivlosigkeit und Krise

Historikerin Marie-Christin Lux ist überzeugt, dass viele verschiedene Faktoren die neu aufgeflammte Judenfeindlichkeit in Frankreich beeinflussen. Einige dieser Faktoren tauchen in der Geschichte immer wieder auf. "Schon bei der Weltwirtschaftskrise 1929 war es so, dass danach der Antisemitismus sprunghaft anstieg." Jetzt hat Frankreich wieder enorme soziale und wirtschaftliche Probleme, die Geschichte scheint sich in diesem Punkt zu wiederholen. Gerade im Großraum Paris mit seinen städtebaulich problematischen Vorstädten treten diese Probleme offen zutage. "Gleichzeitig ist in der Schulpädagogik vieles verfehlt worden, um solchen Stereotypen vorzubeugen, auch entsprechende Projekte mit Jugendlichen finden in Frankreich nicht im ausreichenden Maße statt", ist Lux überzeugt.

Pariser Vorort Créteil (Foto: AFP/getty)
Pariser Vorstadt-Tristesse: Créteil ist zum Symbol des Antisemitismus in Frankreich gewordenBild: Martin Bureau/AFP/Getty Images

Auch Alain Jakubowicz sieht das so. Im Sender Europe 1 sprach der Präsident der Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus von Lippenbekenntnissen einer Politik, die nicht genug unternehme. Tausende Juden sehen das offenbar ähnlich. Die Jüdische Agentur für Israel gibt an, dass Frankreich an der Spitze der Länder steht, aus denen Juden auswandern. Rund 5000 französische Juden hat es in diesem Jahr schon nach Israel gezogen. Momentan leben noch mehr als eine halbe Million Juden in Frankreich, das ist europaweit ein Spitzenwert und weltweit Platz drei hinter den USA und Israel.

Marie-Christin Lux hofft, dass die öffentliche Solidarität mit Juden und der Wille, gegen die Vorurteile anzukämpfen, anhalten. "Das darf jetzt nicht wieder abflachen. Es ist kein Problem der Muslime oder der Juden, das ist ein französisches Problem, das alle Franzosen betrifft."