1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Stiller Kämpfer spricht im Bundestag

Efim Schumann27. Januar 2014

Daniil Granin ist eine der herausragenden Persönlichkeiten der Gegenwartsliteratur Russlands, ein geistiger Vorreiter der Demokratiebewegung. An diesem Montag sprach er zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag.

https://p.dw.com/p/1AxbC
Russischer Schriftsteller Daniil Granin (Foto: DPA)
Bild: picture-alliance/dpa

Der Mann ist einmalig. Für junge Russen, die westliche Freiheit und Lebensart kennen und schätzen, ist er eine unbestrittene moralische Instanz. Aber auch unverbesserliche Altkommunisten, die der Sowjetunion immer noch nachtrauern und überzeugt sind, dass der Westen das Land verderben und versklaven möchte, zollen ihm großen Respekt. Die russische Opposition schätzt ihn als einen der Vorreiter der Perestrojka und als unerschrockenen Verteidiger der Demokratie. Und der russische Präsident Wladimir Putin, der die Pressefreiheit und andere demokratische Freiheiten bekämpft, kommt zu ihm nach Hause, um ihm persönlich zum 95. Geburtstag zu gratulieren.

Subversives Gewissen

So war Daniil Granin immer. Schriftsteller und Denker, Humanist und Kulturförderer. Er zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten der russischen Gegenwartsliteratur und der russischen Zivilgesellschaft. Er hat viele Bücher geschrieben, deren Hauptthema, wie ein russischer Kritiker formuliert hatte, "die moralische Wahl war, vor der der Autor seine Helden stellt". Es sind vor allem die begabten Wissenschaftler, die mit der Bürokratie ringen. "Bahnbrecher", "Zielbestimmung", "Dem Gewitter entgegen", "Zähmung des Himmels" - so hießen die ersten Bücher Granins. Eigentlich nichts, was implizit der herrschenden Ideologie wiedersprechen könnte. Er wurde Vorsitzender des Schriftstellerverbandes. Aber die linientreuen Literaturkritiker beobachteten Granin stets mit Argusaugen. Einer von ihnen bezichtigte ihn der "kleinbürgerlichen Charakterlosigkeit".

Russischer Schriftsteller Daniil Granin und Michail Chodorkowski (Foto: DPA)
Daniil Granin (rechts) und Michail ChodorkowskiBild: imago/Russian Look

Granins Bücher waren für die ideologischen Aufpasser in der Sowjetunion mehr als nur fremd für die kommunistische Weltanschauung, sie waren subversiv. Und die wachsamen Politaufseher hatten Recht, denn Granin schrieb über Barmherzigkeit, Reue, Toleranz, Gewissen - also über die Dinge, die für die herrschende Ideologie gefährlich waren. Später hatte er es selbst so formuliert: "Die kommunistische Ideologie nahm von Anfang an eine Generalamnestie vor. Im Namen der sozialistischen Sache war es eben notwendig gewesen. Der Sowjetmensch sollte an die Weisheit der Partei glauben, die sich nicht irrt. Damit war der Einzelne jeder Verantwortung enthoben."

Der Kriegsheld, der den Krieg hasst

Viele seiner Bücher wurden brutal von der Zensur verunstaltet. So auch das berühmte "Blockadebuch" über die 900 Tage der deutschen Blockade Leningrads, des heutigen St. Petersburg. Annähernd eine Million Menschen, vor allem Zivilisten, wurden Opfer dieser "militärischen Operation". Die meisten von ihnen verhungerten. In der Sowjetunion wurde die Blockade Leningrads zum Heldenepos stilisiert. Granin und sein Kollege Ales Adamowitsch zeigen anhand von Dokumenten, Tagebüchern und Augenzeugenberichten das Leiden der Menschen und sie stellen die Frage, wer auf sowjetischer Seite dafür verantwortlich war. Das Buch konnte erst nach der Perestrojka vollständig veröffentlicht werden. Es spielt eine wichtige Rolle, wie auch Granin selbst, bei der Vertiefung des deutsch-russischen Dialogs.

Granin hatte selbst als 22-jähriger einfacher Soldat Leningrad verteidigt, bevor sich der Belagerungsring schloss. Als Freiwilliger kämpfte er im Zweiten Weltkrieg. Er trat der Kommunistischen Partei bei, wurde später Panzeroffizier und bekam mehrere Kriegsorden. Ein Buch über seine Kriegserlebnisse hat er nie geschrieben. In der Breschnew-Zeit, in der der Zweite Weltkrieg als "Großer vaterländischer Krieg" verherrlicht wurde, sagte Granin verblüffend offen in einem Interview: "In dem Krieg habe ich gelernt zu hassen, zu morden, brutal und rachesüchtig zu sein - all das, was ein Mensch nicht braucht."

Gewalt verabscheut Granin. Er war nie ein kämpferischer Dissident, ist nie laut oder vorlaut geworden. Man könnte daraus schließen, er sei kein großer Kämpfer. Doch das ist ein Irrtum. Granin war immer unnachgiebig - auf seine Art. Er ist ein stiller Kämpfer. In seinem Buch "Die verlorene Barmherzigkeit. Eine russische Erfahrung" polemisierte er mit der Binsenweisheit, das Gute müsse mit Fäusten durchgesetzt werden. "Das Gute, das mit Fäusten vorgeht, bringt nichts Gutes hervor. Das Gute ist schon Kraft genug, wenigstens aus dem Grund, dass es das Bewusstsein für Gerechtigkeit schafft", schrieb Granin.

Ein Idealist? Vielleicht. Gleichzeitig aber ein Weiser, der viel erlebt hat und die Welt kennt. Ein Gerechter. Ein Mitbegründer des russischen PEN-Zentrums. Ein Widersacher "der Menschen mit unterentwickeltem Gewissen", wie Granin selbst es formuliert. Man konnte kaum einen Besseren für die Rede im Bundestag zum Holocaust-Gedenktag finden.