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Stilles Kämmerlein ganz öffentlich

Ingrid Arnold25. Juli 2002

Sie sind populär wie nie zuvor: so genannte Weblogs. Nicht nur Amateurpublizisten, auch Journalisten führen solche kommentierte Surf-Tagebücher. Aus Fundsachensammelstellen ist eine eigenständige Medienform entstanden.

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Bloggen als neue LieblingsbeschäftigungBild: AP

Ein Phänomen geistert durch die Medien: "Focus" nennt es "Napster für News", die "Neue Züricher Zeitung" vermutet "publizistische Heilsbringer", während "Telepolis" knapp konstatiert, Weblogs seien eben "in". Als Weblogs, kurz Blogs, werden Tagebücher auf privaten Websites ebenso bezeichnet wie inhaltlich hoch spezialisierte Communitys. Der von "Web-Logbuch" abgeleitete Begriff steht für eine ständig aktualisierte Mischung aus literarischem Online-Tagebuch und kommentierter Linkliste. Beides gibt es schon lange im Netz; neu ist nur die immense Verbreitung - und die Wahrnehmung als ernst zu nehmende publizistische Ausdrucksform.

Viele Online-Magazine der ersten Stunde haben schon die Kommerzialisierung des WWW Mitte der 90er-Jahre nicht überstanden oder konnten spätestens seit der Krise der New Economy nicht mehr finanziert werden. Zudem ziehen sich auch viele "alte" Medien auf ihr "Kerngeschäft" zurück: Sie publizieren in ihren Online-Ausgaben meist nur noch Inhalte aus der Printausgabe oder, im Fall von Sendern, programmbegleitende Informationen. Ein Ausweg aus dieser Krise des Online-Journalismus könnten Weblogs sein: Sie beziehen ihre Inhalte, im Web gefundene und für interessant befundene Storys, von den Lesern.

Wiederbelebung des Online-Journalismus?

Seinen Ursprung hat das neue Webformat in den USA: Die Linux-Community Slashdot.org, die Themen-"Recycler" von Plastic.com oder das mit dem Aufdecken der Clinton-Lewinsky-Affäre berühmt gewordene Online-Klatsch-Magazin Drudgereport.com sind Vorreiter der Do-it-yourself-Nachrichtendienste. Begünstigt durch billige und einfach zu handhabende Softwarelösungen sind mittlerweile große Communitys um diese neue Variante eines "Reader's Digest" entstanden - und ein großer Medien-Hype.

In Deutschland machte neben den New-Economy-Leichenfledderern von Dotcomtod.de die viel gelobten Feuilleton-Presseschau Perlentaucher.de auf das gemeinschaftliche Zusammentragen von Informationen aufmerksam. Auch immer mehr Journalisten betreiben ihre eigenen Weblogs: Der Spiegel-Redakteur Henryk M. Broder füttert auf Henryk-broder.de sein Tagebuch so eifrig, dass es schon eine Buchversion seiner Netz-Kurzgeschichten gibt. Der freie Korrespondent und Autor Konstantin Klein berichtet auf WorldWideKlein.de aus Washington DC. Und auf Paranews.org bloggen der ehemalige "Spiegel"- und "Zeit"-Redakteur Lorenz Lorenz-Meyer oder "Focus"-Wissenschaftsredakteur Jochen Wegner - zusammen mit rund Hundert Community-Mitgliedern.

"Nachrichten in der Nussschale"

Worauf es ankommt, ist - im Gegensatz zu den klassischen journalistischen Formen - der persönliche Ton: Jochen Wegner reizt "vor allem das Schnelle, Schmutzige dieser Medienform". Der subjektive Zugang zu einem - zudem frei gewählten - Thema und die offen zur Diskussion gestellte eigene Meinung finden ihren Platz am besten in Blogs. Eine "Bedrohung" journalistischer Grundwerte ist dabei nicht zu befürchten: Zwar lassen sich Journalisten von den online diskutierten Themen inspirieren, aber "Weblogs sind kein Journalismus", meint Wegner gegenüber DW-WORLD: "Wir veröffentlichen ja keine journalistischen Beiträge, sondern verweisen höchstens auf solche." Der Antrieb liegt für den Paranews.org-Blogger "eher in einem ganz bestimmten Lebensgefühl".

Statt einer Konkurrenz Blogs versus Journalismus profitieren also beide voneinander. Und mittlerweile springen auch etablierte Medien wie BBC und "Guardian" auf den Blog-Zug auf: Sie bieten auf ihren Online-Angeboten die handverlesenen News ihrer Leser. Die Vielfalt der Ausdrucksformen und der Austausch in der Community hat zu etwas tatsächlich Neuem geführt: Jochen Wegner sieht in Weblogs "eine noch ziemlich junge Medienform, die natürlich aus altbekannten Versatzstücken besteht. Doch das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.".

Rückbesinnung auf die Anfänge des WWW

Das persönliche Tagebuch war eine frühe publizistische Ausdrucksform im WWW - allerdings aus finanziellen und technischen Gründen keine Massenerscheinung. Heute werden viele Websites nicht von einer Einzelperson als "Chefredaktion" sondern von User-Kollektiven gefüttert. Neben der offenen Online-Community, zu der potenziell alle User ungefiltert beitragen, gibt es Mischformen aus redaktionellen und - meist moderierten - Community-Inhalten.

Seit Weblogs nun nicht nur von unüberschaubar vielen "Normalusern" auf allen Gebieten von Kaffeerezepten bis Science-Fiction geführt werden, sondern auch von IT-Firmen wie Mobilocity als Intranet genutzt oder an kalifornischen Universitäten Teil des Journalismus-Curriculums werden, ist das Thema endgültig im Mainstream angekommen. Nach Schätzungen des Magazins "Wired" gibt es momentan über 100.000 Weblogs, die "NZZ" schreibt von 200.000, "Focus" nennt 500.000. Doch egal, wie viele es sind, das Phänomen ist ernst zu nehmen.