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Stimmen zum Fest

19. April 2002

Künstler über ihre Beziehung zu Beethoven, Bonn und dem Internationalen Beethovenfest

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Sir Simon RattleBild: AP

Hier finden sie eine Artikelsammlung der unterschiedlichsten Künstler, die über Ihre ganz persönliche Einstellung zu Beethoven und seiner Musik sprechen.

Den Anfang macht Sir Simon Rattle. Er ist gegenwärtig wohl der meistgefeierte Dirigent der Sinfonien Ludwig van Beethovens, erlebt in Konzerten und in jüngsten CD-Veröffentlichungen.

Die Musik Ludwig van Beethovens - sie war und ist nicht nur eine kaum bezwingbare Herausforderung für die Komponisten nach ihm , sondern auch für jeden Dirigenten. Beethoven, der Titan, der Maßstäbe setzt, der Vorbild ist und doch unerreichbar scheint. Auf der anderen Seite die Allgegenwärtigkeit seiner neun Sinfonien, die auf dem CD-Markt und im Konzertleben weltweit so präsent sind wie nur wenig andere Werke. Welche Rolle spielt Beethoven im Künstlerleben von Sir Simon Rattle?

Sir Simon Rattle:
"Nun, es ist ein sehr interessanter Prozess, sich Beethoven anzunähern in einer Art Zangenbewegung, vorwärts vom Barock aus und rückwärts aus unserer eigenen Zeit. Natürlich hat Beethovens Musik schon immer einen ganz zentralen Platz in meinem Herzen eingenommen. Wie es so vielen geht: Diese Musik zu dirigieren war ein großes Ringen. Karajan hat mir einmal gesagt: "Ach, Simon, machen Sie sich keine Sorgen. Die ersten hundert Aufführungen der Fünften Symphonie müssen Sie einfach vergessen." Und ich weiß genau was er damit meint. Bei diesen Stücken kommt irgendwann ein Zeitpunkt, bei dem man genug Erfahrung hat, um zu wissen, welchen Blickpunkt man selber hat.Denn es gibt vielleicht keine anderen Werke, die man auf so unterschiedliche Weisen interpretieren kann. Das ist ja ein Teil der Faszination. Und, wissen Sie, es ist wie bei Beckett: du wirst es immer verfehlen, aber du hoffst jedesmal, es besser zu verfehlen. Das ist eigentlich alles, auf das man hoffen kann."

Sir Simon Rattle und Beethoven: Diese Kombination ist attraktiv - in jeder Hinsicht. Der gegenwärtige Superstar der Klassik-Szene und künftige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, er zieht viele Menschen in seinen Bann. Und wenn sich seine Popularität mit der Beethovens potenziert, dann sind ausverkaufte Konzertsäle zu erwarten - und gute Absatzzahlen im CD-Geschäft.

Für das Jahr 2002 ist eine Gesamtaufnahme aller Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern geplant. Man darf gespannt sein. Von einem wie er, der - weit weg von Wien und dem Zentrum Europas 1955 in Liverpool geboren wurde, erwartet man nicht unbedingt, dass er Beethovens Musik mit der Muttermilch aufgenommen hat. Dennoch, seine erste Begegnung mit Beethoven reicht bis in frühe Kindertage.

Sir Simon Rattle
"Ja, in meiner Kindheit, als ich die Sonaten spielte. Und auch als ich dann Pauke spielte, in Orchestern. Es ist gut, direkt am Puls dieser Musik zu sein. Denn es gibt gar keine andere Musik, vor oder nach Beethoven, denke ich, in der der Rhythmus des Herzschlags so tief und kräftig verwurzelt ist. Obwohl es meiner Ansicht nach etwas sehr Flexibles sein muß. Wir wissen ja wie flexibel er selbst spielte. Aber da ist ein Puls, und der ist machtvoll in einer fast histerischen Art. Ich glaube für seine Zeitgenossen war das einfach zu viel, das ging ihnen einfach zu nahe. Denken Sie daran, was Goethe zu Mendelssohn sagte in Bezug auf die Fünfte Symphonie! Er sagte:´Wenn alle Musiker auf der Welt dieses Stück auf einmal spielten, würden die Planeten aus ihren Bahnen geraten.´Ich denke, ja, da hat er recht!"

Beethoven fordert den Hörer - damals wie heute. Er fordert den Interpreten ebenso oder sogar noch mehr; denn er ist es, der die auseinanderstrebenden Kräfte in Beethovens Musik zusammenzwingen muss. Kennt auch Sir Simon Rattle Momente, wo er seine Grenzen spürt ?

Sir Simon Rattle
"Ich glaube, von allen Komponisten ist er derjenige, der am meisten verlangt von seinen Musikern und seinen Dirigenten, an purem Kraftaufwand. So dass man das Gefühl hat, es kann nie reichen, was man gibt. Ich kann zum Beispiel bestätigen, dass es oft mehr Kraft kostet die Siebte Symphonie zu dirigieren als den Tristan. Es ist... ja, da haben wir's. Es lässt einen überhaupt nicht los, und oft hat man das Gefühl, dass man sich auf einer steilen Fahrt bergab befindet. Aber man muss sich diesem Gefühl hingeben, das muss man."

Mit Sir Simon ein Interview zu bekommen, ist nicht ganz einfach. Insbesondere, nachdem klar ist, dass er als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker eine der wichtigsten Positionen im internationalen Musikleben bekleiden wird.

Umso freudiger die Begegnung mit ihm, als er vor einem Konzert jugendfrisch auf dem schwarzen Ledersofa in seiner Künstlergarderobe sitzt. Das graue T-Shirt farblich abgestimmt mit dem Grau seines Lockenschopfes, sehr aufmerksam und konzentriert auf die Fragen antwortend. Beispielsweise auf jene Frage, die im Vorfeld der geplanten Gesamtaufnahme aller Beethoven-Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern besonders interessiert, nämlich die Frage nach seinen Vorbildern, den Quellen der Inspiration.

Sir Simon Rattle
"Ich glaube, für mich gab es zwei große Götter an sehr verschiedenen Enden. Einer war Furtwängler. Es gibt keinen Dirigenten heute, der nicht fühlt, dass er auf diesen außerordentlichen Schultern sitzt. Und dann die Arbeit auf historischen Instrumenten, diese Bewegung, und dort vor allem Nikolaus Harnoncourt. Ich komme von dort. Das war auch ein wichtiger Grund der Wiener Philharmoniker, mich zu fragen. Sie wollten mehr über diese seltsamen Ideen herausfinden. Mag sein, dass es sie ein bisschen verrückt macht jetzt. Aber es ist eine faszinierende Vermählung zwischen ihrer Tradition und ihrer einzigartigen Fähigkeit und Kompetenz und ganz einfach auch einer neuen Weise, zu denken und zu phrasieren."

Und es ist für den Zuhörer wie für den Betrachter gleichermaßen faszinierend, wie scheinbar mühelos Sir Simon die Wiener Philharmoniker auf seine Interpretationspfade führt. Mit anspornenden Blicken, nach vorne gerecktem, fordernden Kinn, mit Bewegungen, die mal elegant, mal energisch sind, die aber immer eines verraten, nämlich dass er die Musik vorausdenkt und mit seinen Gesten, seiner Körperhaltung vorzeichnet.

Er habe sich der Musik Beethovens auch vom Barock aus genähert, hat Sir Simon Rattle eben gesagt. Stichwort historische Aufführungspraxis, die den sprechenden Charakter der Musik betont - zunächst im Barock, später dann vordringend bis in die Klassik und Romantik. Diese Klangrede bei Beethoven, flexibel und durchsichtig gestaltet mit einer Fülle an Ausdruckswerten, dieses spezifische Moment macht Rattles Beethoven-Interpretationen aus. War es nicht sehr schwer für ihn, dies alles einem Orchester wie den Wiener Philharmonikern zu vermitteln, die stolz sind auf ihre ganz eigene Beethoven-Tradition?

Sir Simon Rattle
"Sie haben wirklich eine hervorragende Tradition, und es ist auch eine lebendige Tradition. Es ist aber zu bedenken, dass fast alle Dirigenten, die innerhalb dieser Tradition gearbeitet haben, schon ziemlich lange tot sind.

Also, wenn die Philharmoniker die Sinfonien spielen wollen, müssen sie neu forschen. Sie müssen die Vorstellungen einer neuen Generation erkunden. Na ja, im Falle von Nikolaus [Harnoncourt] ist es dieselbe Generation. Aber was zu dem Thema Tradition wesentlich ist, ist dies: Tradition muss sich immer wieder erneuern, um lebendig zu bleiben. Oft handelt es sich dabei um Fragen der Grammatik und der Sprache des Musik. In diese Richtung geht es.Ich jedenfalls freue mich schon, dass auch ich irgendwann zur alten Generation gezählt werde. Jede Generation wird ihren eigenen Weg finden"

Der Eindruck von, er kommt nicht auf. Bewundernswert angesichts der Tatsache, dass auch Sir Simon die Sinfonien Ludwig van Beethovens schon häufig aufgeführt hat. Wie hält er sich Beethovens Musik frisch?

Sir Simon Rattle
Sie spricht einen so persönlich an, und ein Teil der Problematik ist... es muss jeder seinen eigenen Weg finden, sich ganz offen und ehrlich dieser Musik anzunähern, so dass es sich nicht um erinnerte Gefühle handelt, sondern um etwas Neues. Ohne dieses sollte man diese Musik gar nicht erst spielen.

Es ist ganz interessant - es gab mal eine Zeit, in meinem Heimatland, England, da wurden einige dieser Stücke überhaupt nicht mehr gespielt. Ich war überrascht, dass man die Fünfte Symphonie nur ganz selten spielte, denn sie war zum Klischee geworden, wie etwa die Mona Lisa. Und da musste man vorsichtig sein. Aber nach einer gewissen Pause kamen die Leute zurück zu ihr, und dann hatten sie das Gefühl, "Mein Gott, ja!" und "Ach nein, das ist a wirklich...! Hat irgendwann einmal irgendjemand eine bessere Symphonie geschrieben?" Wahrscheinlich nicht! Aber manchmal braucht man halt etwas Distanz zu einer Sache. Zur Zeit sehe ich dieselbe Gefahr für Mahler, denn Mahler spielt man jetzt sozusagen als Gewohnheitssache, er ist im Repertoire. Aber Repertoire kann wirklich tödlich sein.

Ist es nicht so, dass die Neu-Edition durch Jonathan del Mar die Sinfonien Beethovens unzweideutig in die Nähe der historischen Aufführungspraxis bringt, in die Nähe jener Praxis, die für die Interpretation von Musik die Perspektive der Konzert- und Musizierpraxis der jeweiligen Entstehungszeit berücksichtigt. Was über die jeweils benutzten Instrumente weit hinausgeht und insbesondere die seit der Renaissance- und Barockzeit verwandten rhetorischen Figuren meint, mit deren Hilfe aus Klang eine Klangsprache entsteht - aber eben nicht nur im Barock, sondern danach auch in der Wiener Klassik und hier insbesondere bei Beethoven?

Wie vor ihm vielleicht nur Herbert von Karajan ist Sir Simon beiden großen Traditionsorchestern im deutschsprachigen Raum besonders eng verbunden. Wo sieht er die Unterschiede zwischen Berliner und Wiener Philharmonikern?

Sir Simon Rattle
"Jeder, der meint, es gäbe irgendeine Ähnlichkeit zwischen den Deutschen und Österreichern, trägt Scheuklappen. Bernard Haiktinks Kommentar, dass die Wiener Philharmoniker das weiblichere Orchester sind, ist wahrscheinlich goldrichtig. Natürlich gibt es auch die Hauptunterschiede, wie sie zwischen einem Opern- und einem Symphonieorchester existieren. Was es zeigt, ist, auf wie vielen unterschiedlichen Wegen in der selben Sprache man sich der selben Musik nähern kann. Das sind wirklich zwei große Institutionen. Ich würde keines der beiden Orchester gerne missen. Ich freue mich auf meine Zeit in Berlin, mit soviel Freude und Ungeduld. Ich kann es Ihnen kaum sagen."

Doch ihn Rattle bewegen nicht nur Zukunftspläne. In die graue Gegenwart zurück zieht in diesen Monaten jeden Musiker, ja, jeden Menschen immer noch der bösartige Terroranschlag von New York. Welche Antworten kann die Musik geben? Die Berliner Philharmoniker haben einen Monat nach dem Anschlag in New York konzertiert und Beethoven gespielt. Unter dem Jubel der New Yorker, die diese Geste der Solidarität offensichtlich verstanden. Beethoven, immer wieder Beethoven. Welche Botschaft liest Sir Simon vor dem Hintergrund der Gewalttaten aus seiner Musik heraus?

Sir Simon Rattle
"Ich glaube, es gibt keinen Zweifel. Von allen Stücken ist es die Pastorale, die den Menschen Segen bringt. Zu meinem Orchester habe ich gesagt: Was auch immer dieser Sturm bedeutet, es geht sicherlich nicht um die Wetterlage. Und Gefühl von Befreiung und Versöhnung. Für mich ist diese Symphonie eines der bedeutendsten Kunstwerke, weil sie über menschliche Humanität zu uns spricht. Das sind gegenwärtig gute Tage , dies zu spielen."

Das Interview führte Gero Schließ