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Straffreiheit kann Vergangenheitsbewältigung nicht ersetzen

Daniel Wortmann28. Juni 2005

Nach einem politischen Umsturz kann Amnestie für die Konfliktparteien ein probates Mittel für den Neuanfang sein. Oft führt sie aber zugleich dazu, dass schwere Menschenrechtsverletzungen unbestraft bleiben.

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Jüngstes Beispiel politischer Amnestie: Milizen in KolumbienBild: AP

"In erster Linie wird Amnestie natürlich von den Tätern befürwortet", sagt Anika Oettler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Iberoamerika-Kunde. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, zugleich aber eine Beschreibung der schwierigen Interessenlage, wenn für bestimmte Taten oder Täter im Nachhinein eine straffreie Zone geschaffen wird: Wem dient es, dass der Staat bestimmte Gruppen nicht zur Rechenschaft zieht - und wer hat das Recht, darüber zu befinden?

Selbstverpflichtung des Staates

Argentinien Menschenrechte Reaktionen
Bürgerrechtler in Argentinien: Amnestiegesetze waren verfassungswidrigBild: AP

Amnestie ist die Selbstverpflichtung eines Staates, eine Gruppe von Personen von der Strafverfolgung auszunehmen oder bestimmte Straftaten, die begangen worden sind, nicht zu ahnden. Sie steht damit neben der Begnadigung, die sich nur auf einzelne Täter bezieht.

Die Möglichkeit einer Amnestie findet sich nicht nur in Krisenstaaten, sondern auch in stabilen Demokratien. So wird in Frankreich bei jeder Wahl des Staatspräsidenten ein Amnestiegesetz erlassen. Besonders beliebt sind Steueramnestien: So soll Steuersündern der Weg zurück in die Legalität erleichtert werden.

Sicherung der politischen Verhältnisse

Kontrovers bleibt vor allem die so genannte "Befriedigungsamnestie", die zur Glättung politischer Unruhen oder nach Bürgerkriegen eingesetzt wird, um die neue politische Ordnung zu sichern.

Im Rahmen eines solchen Straferlasses verliert der Staat einen Teil seines strafrechtlichen "Gedächtnisses". "Zumeist sind es staatliche Akteure, die von der Strafverfolgung ausgenommen werden", sagt Südamerika-Expertin Oettler. Zudem profitieren häufig Guerillakämpfer und nichtstaatliche Paramilitärs von einem Straferlass.

Augusto Pinochet
Hat sich selbst amnestiert: Der chilenische General PinochetBild: AP

Für eine Amnestie spricht zunächst die Vereinfachung der Strafverfolgung. Anstatt sich in einer Flut von Prozessen zu verlieren, kann das neue System die Verantwortlichen gezielt herausgreifen und zur Rechenschaft ziehen, während Täter auf niedrigen Befehls- und Verantwortungsebenen straffrei ausgehen.

Vermeidung neuer Konflikte

Wichtigster Ansatzpunkt ist jedoch die Schlichtung eines weiter existierenden Konflikts. "Eine strafrechtliche Verfolgung kann schnell zu einem Säbelrasseln der Militärs und zu Putschversuchen führen", erklärt Anika Oettler. Also zieht man nicht nur einen Schlussstrich unter die bisherige Politik, sondern befriedet das Land für die Zukunft – indem man sich konfliktträchtiger Strafprozesse entledigt.

Problematisch wird die Praxis der Amnestie immer dann, wenn schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen nicht geahndet werden. Zwar schließt das Völkerrecht nicht die Amnestie als solche aus. Im Falle von Bürgerkriegen empfehlen die Genfer Konventionen sogar eine "weitestmögliche Amnestie" für die Beteiligten der bewaffneten Auseinandersetzungen.

Pflicht zur Bestrafung?

Francisco Franco
Auch sein Regime profitierte von einer Amnestie: Der spanische Diktator FrancoBild: AP

Allerdings soll für bestimmte Menschenrechtsverletzungen, wie etwa Kriegsverbrechen, Völkermord und Menschenhandel, ein absolutes Verbot gelten. Dies hätte zur Folge, dass jeder Staat verpflichtet wäre, bestimmte Taten in jedem Fall zu bestrafen.

Insbesondere in Lateinamerika, wo Amnestie bei der Aufarbeitung von Bürgerkriegen und Militärregimen eine wichtige Rolle spielte, wird dieser Grundsatz wahrgenommen und auch durch den dortigen Gerichtshof für Menschenrechte propagiert. "Das hat sogar dazu geführt, dass Staaten wie Venezuela und Ecuador ihre Verfassung angepasst und die Amnestie für bestimmte Taten verboten haben", berichtet Helmut Gropengießer, ehemaliger Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht.

Im Zuge dieser Diskussion wurden im Juni 2005 zwei der bekanntesten Amnestiegesetze der jüngeren Geschichte für ungültig erklärt: das Schlusspunktgesetz und das Gesetz über den Befehlsnotstand. Diese hatten die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen aufgehoben, die während der argentinischen Militärdiktatur begangen worden waren. Für "gewöhnliche" Straftaten gilt die Amnestie jedoch weiterhin als probates Mittel: So hat das kolumbianische Parlament den Milizionären im Land eine Amnestie für den Fall angeboten, dass diese ihre Waffen abgeben.

Wahrheitskommissionen als Alternative

Wahrheitskommission in Peru
Eine Wahrheitskommission in Peru berichtet von 20 Jahren der GewaltBild: AP

Unbestritten bleibt, dass die Mittel des Strafrechts für die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht ausreichen. Eine mögliche Alternative bilden so genannte "Wahrheitskommissionen", wie sie in Südafrika eingesetzt wurden. "Sie werden entweder durch die Regierung oder auf Basis eines Friedensvertrags etabliert und dokumentieren die Verbrechen der Vergangenheit", erläutert Anika Oettler.

Die Aktivitäten der Kommissionen haben keine direkte strafrechtliche Relevanz. Sehr wohl können sie aber dazu beitragen, die einzelnen Beteiligten an einen Tisch zu bringen und zur Versöhnung zerstrittener Bevölkerungsgruppen beizutragen. Häufig komme es letztlich nicht auf eine Bestrafung an, sagt Strafrechts-Experte Gropengießer: "Wenn es lediglich ein Aufklärungsbedürfnis gibt, sind Wahrheitskommissionen ein interessanter Zwischenweg."