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Streit um Benes-Dekrete

18. Februar 2002

– In Österreich wird eine Sammelklage gegen den tschechischen Staat vorbereitet

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Prag, 17.2.2002, RADIO PRAG, deutsch, Olaf Barth

Auf der Grundlage einiger der nach dem ehemaligen tschechoslowakischen Präsidenten Eduard Benes benannten Rechtsdekrete erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg die Enteignung und Vertreibung von rund drei Millionen Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei. Die Benes-Dekrete gehören seither zu den umstrittensten europäischen Rechtsdokumenten. Seit einigen Tagen ist die Auseinandersetzung wieder neu entflammt.

Der neue Akt im Streit um die Dekrete wurde ausgerechnet durch eine nicht nur in Österreich und Deutschland als undiplomatisch wahrgenommene Aussage des tschechischen Premierministers, Milos Zeman, ausgelöst. Dieser hatte nämlich die Sudetendeutschen in Anlehnung an die Worte des spanischen Diktators Franco als "fünfte Kolonne Hitlers" bezeichnet.

Auf Zemans Verbalattacke kamen vor allem aus Österreich postwendend Forderungen nach der Aufhebung der Benes-Dekrete. Auf einmal reichte den Sudetendeutschen Landsmannschaften in Österreich auch nicht mehr die bisher geforderte Entschuldigung der tschechischen Seite für das zum Teil erlittene Unrecht. Gerhard Zeisel, Obmann der Sudetendeutschen Landsmannschaften in Österreich (SLÖ) erklärte gegenüber der Zeitung "Oberösterreichische Nachrichten", eine Entschuldigung Tschechiens für die Vertreibung und Enteignung reiche nicht: "Ich bin nicht für eine Entschuldigung, sondern für eine Verurteilung und Aufhebung der Dekrete."

Ohne eine Lösung des Problems, dürfe Österreich laut Zeisel den EU-Beitritt der Tschechischen Republik nicht zulassen: "Wir sind daran interessiert, dass es ohne Veto geht. Wenn es aber zu keiner Einigung kommt, muss bei einer Aufnahme Tschechiens in die EU das Veto ausgesprochen werden."

Und Zeisel kündigte an, man bereite eine Sammelklage gegen den tschechischen Staat vor. Ziel sei es, für die erlittenen Enteignungen entschädigt zu werden.

Auch der österreichische Nationalrat forderte seine Regierung auf, mit der Tschechischen Republik über die Abschaffung der Benes-Dekrete zu verhandeln.

Nicht nur der tschechische Premier Zeman lehnte die Forderung, die Dekrete neu zu verhandeln, kategorisch ab: "Die tschechische Regierung erachtet es als nicht erforderlich und letzten Endes auch als nicht möglich, die Frage der Benes-Dekrete erneut aufzugreifen."

Der Premier verwies außerdem darauf, dass die Frage der Dekrete bereits in der bilateralen Aussöhnungserklärung mit Deutschland geklärt worden sei und daher kein Grund bestehe, jetzt Verhandlungen mit Österreich darüber zu führen.

Auch die anderen tschechischen Politiker waren sich einig: Keine Verhandlungen über die Benes-Dekrete!

ODS-Vize und Schattenaußenminister, Jan Zahradil, drückte das so aus: "Sofern es um Deutschland geht, da haben wir das (eine Entschuldigung) bereits in der tschechisch-deutschen Deklaration konstatiert. Und auch mit Österreich haben wir ein zwischenstaatliches Dokument aus dem Jahre 1974. Ich denke nicht, dass es nötig ist, dort noch etwas hinzuzufügen. Es ist sicherlich nicht sinnvoll, ständig in der Vergangenheit herumzustochern, sich entschuldigen zu müssen und danach zu suchen, wer nun was verschuldet hat. Das führt auf beiden Seiten nur zu neuen Spannungen."

Zahradil meint, die Tschechische Republik dürfe weder bei der deutschen noch bei der österreichischen Seite auch nur den Eindruck entstehen lassen, dass man bereit sei, die Benes-Dekrete zu diskutieren, denn:

"Das wäre ein großer Fehler, den die Interessenverbände der Sudetendeutschen sowie der österreichischen Sudeten natürlich sofort ausnutzen würden."

Warum viele tschechische Volksvertreter derart ablehnend reagieren, wird schnell deutlich, wenn man den Ausführungen des Historikers Libor Vykoupil von der Brünner Masaryk-Universität folgt:

"Wenn wir also die Dekrete als solche in Frage stellen - nicht deren Gültigkeit, das geht nämlich nicht, weil sie so nicht mehr gelten - wenn wir sie anzweifeln, dann fordern wir im Prinzip eine Revision der internationalen Verträge, eine Revision der Resultate des Zweiten Weltkriegs, letzten Endes stellen wir damit sogar die Nachkriegsordnung in Frage."

Ähnlich wie der Brünner Historiker sieht das auch der Abgeordnete der regierenden CSSD, Zdenek Koudelka. Er fordert deshalb, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen sudetendeutschen Antifaschisten zu entschädigen, ihnen soweit möglich ihren Besitz zurückzuerstatten und ihnen darüber hinaus die tschechische Staatsbürgerschaft anzubieten.

Wem das nun auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, dem kann geholfen werden - Herr Koudelka erklärt nämlich:

"Tatsächlich kommt die Abschaffung der Benes-Dekrete für mich auf keinen Fall in Frage, denn man würde damit die gesamte Nachkriegsrechtsordnung sowie die Eigentumsregelungen auf den Kopf stellen. Was die Antifaschisten angeht: Gerade deshalb, weil der tschechische Staat dafür eintritt, dass die Dekrete gültig sind und nicht abgeschafft werden können, sollte man sich mit möglichen Verstößen gegen die Benes-Dekrete beschäftigen. Wenn wir also eine Entschädigung für die deutschen Antifaschisten fordern, dann deswegen, weil die Dekrete eingehalten werden sollten. Die Benes-Dekrete sagen ganz eindeutig, dass sich die Bestimmungen nicht auf Antifaschisten und diejenigen beziehen, die von den Nazis verfolgt wurden. Das heißt, diese durften nicht vertrieben oder enteignet werden."

ODS-Schattenaußenminister Zahradil zeigt sich davon gar nicht begeistert und meint, dies sei eine verrückte Idee, die man möglichst vom Tisch schmettern sollte. Wenn man derart verfahre, laufe man Gefahr, die berüchtigte Büchse der Pandora zu öffnen, befürchtet Zahradil.

Koudelka kann dem nur entgegen halten: "Ich denke, dass die Antifaschisten, sofern sie irgendeinen Ausweisungsbescheid des tschechoslowakischen Staates erhielten, ihnen der Besitz beschlagnahmt wurde und sie feststellen, dass dies nicht im Einklang mit den Benes-Dekreten stand, dann könnten diese Leute schon heute die Aufhebung dieses widerrechtlichen Bescheids bei den zuständigen Behörden verlangen."

Das Problem liegt aber in der Beweislast: "Auf der Grundlage der Benes-Dekrete liegt die Beweislast bei jenen Deutschen, die die Anerkennung als Antifaschisten beantragen."

Was hält man auf der Seite der Sudetendeutschen von den Anregungen des Herrn Koudelka, die Antifaschisten zu entschädigen? Das fragte ich Herbert Werner, Präsidiumsmitglied des Sudetendeutschen Rates:

"Ich finde es grundsätzlich begrüßenswert, dass die Diskussion über die Frage, wie einzelne sudetendeutsche Gruppen eine Entschädigung bekommen können, begonnen hat. Es kann sich aus meiner Sicht lediglich um einen Einstieg handeln, wenn als Zielgruppe die Sudetendeutschen Antifaschisten ins Auge gefasst werden. Man muss sehen, dass aus der deutschen oder sudetendeutschen Sicht die Frage der Entschädigung aufgebracht wurde anhand derer, die nach Kriegsende in der Tschechoslowakei Zwangsarbeit leisten mussten und dabei schwer geschädigt wurden."

Koudelka jedoch betrachtet seinen Vorschlag eher als Abschluss denn als Beginn einer Diskussion. Vielmehr handele es sich bei den Benes-Dekreten um Bestandteile des tschechischen sowie slowakischen Rechtssystems, die unbedingt eingehalten werden müssten.

Und befürchtet er nicht, dass nun eine Lawine von Forderungen über den tschechischen Staat hereinbrechen könnte?

"Die Lawine weiterer Forderungen wurde schon vor langer Zeit ausgelöst. Forderungen wird es auch weiterhin geben. Aber ich befürchte, dass sie nicht zu realisieren sein werden, denn für den tschechischen Staat ist es einfach nicht möglich, die Rechtsprinzipien der Benes-Dekrete außer Acht zu lassen."

Auch deshalb hält es Herr Werner vom Sudetendeutschen Rat für nicht sinnvoll, zu großen externen Druck auf die tschechischen Volksvertreter auszuüben: "Ich würde eigentlich davor warnen, zu glauben, dass durch Druck seitens der deutschen Landsmannschaften man hier zusätzliche Türen öffnen könnte. Ich glaube, man sollte hier den Weg der Vertrauensbildung mit den tschechischen Parlamentariern gehen."

Insgesamt zeigt sich Herbert Werner zuversichtlich, dass man eine einvernehmliche Lösung zur Entschädigungsfrage der Sudetendeutschen finden wird.

Vor ein paar Tagen habe ich die tschechische Senatorin und Vizevorsitzende des Senatsausschuss für die Europäische Integration, Jaroslava Moserova, gefragt, ob sie befürchtet, dass die momentane Auseinandersetzung die tschechisch-österreichischen Beziehungen nachhaltig belasten könnte: "Ich hoffe nicht. Das wäre so schade. Die Österreicher waren immer unsere Freunde, wir sind doch alle verwandt. Ich heiße Moser, so viele Österreicher haben tschechische Namen. Ich habe mehr Großzügigkeit von den Österreichern erwartet. Die Außenministerin Ferrero-Waldner ist sehr vernünftig und ich hoffe, es wird sich regeln." (ykk)