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Streit um Unabhängigkeit der ungarischen Justiz schlägt weiter hohe Wellen

25. November 2003

- Oberster Richter lenkt ein

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Budapest, 24.11.2003, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch

Die Debatte über die Unabhängigkeit der Justiz, die ein romafeindliches Gerichtsurteil ausgelöst hatte, dauert an. Premier Péter Medgyessy trat vergangene Woche öffentlich mehrmals für die Gleichheit aller Staatsbürger ein und sprach sich gegen die Ausgrenzung von Minderheiten aus. Die Opposition verurteilte sein und das Verhalten anderer Politiker und Prominenter als "unzulässigen Druck auf die Gerichte".

Ursache des Disputs war ein Urteil gegen zwei Roma, die 15 Monate lang unschuldig in Szeged in Untersuchungshaft gesessen hatten. Ein Gericht sprach ihnen einen geringeren Schadensersatz als üblich zu. Der Richter begründete dies mit dem "primitiven Charakter" der Betroffenen. Das Urteil löste landesweit Empörung aus. "Die Gerichte bilden eine wichtige Stütze der Rechtsstaatlichkeit. Sie stehen aber nicht über der Verfassung", sagte Medgyessy. "Die Gleichheit aller Menschen ist genauso wichtig wie die Unabhängigkeit der Richter."

Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Zoltán Lomnici, beklagte sich daraufhin über die versuchte Einflussnahme von Politikern auf die Gerichte. Er zog ausdrücklich auch den Ombudsmann für Minderheiten, Jeno Kaltenbach, in seine Kritik mit ein. Daraufhin solidarisierten sich die vier Ombudsmänner und gaben eine gemeinsame Erklärung ab. Sie stellten fest, dass sie während ihrer bisherigen Tätigkeit die gesetzlichen Grenzen ihrer Kompetenz immer streng beachtet haben, wie auch die Unabhängigkeit der Gerichte.

Die einheitliche Interpretation der Grundrechte mache jedoch den Dialog der rechtsstaatlichen Institutionen notwendig, sagten die Ombudsmänner. Der Vorsitzende des Verfassungsgerichtshofs, András Holló, vermittelte am Mittwoch (19.11.) eine Aussprache zwischen Zoltán Lomnici und Jeno Kaltenbach. Sie stellten fest, dass ihre Meinungsverschiedenheit auf einem Missverständnis beruhten.

Kaltenbach kritisierte nicht das noch nicht rechtskräftige Urteil über die Roma von Szeged, sondern äußerte sich allgemein zu den Gerichten. Sie beschlossen, dass die Ombudsmänner ihre Eindrücke über die Praxis der Gerichte dem obersten Richter künftig fortlaufend mitteilen werden, der diese weitergeben wolle. Lomnici versprach, dass in der richterlichen Ausbildung die Wahrung der Grundrechte stärker betont werden soll. Er zeigte sich auch bereit zu akzeptieren, dass die Richter ihre Urteile öffentlich begründen können, wenn sie kritisiert werden. Dazu müsste das Gesetz allerdings modifiziert werden.

Nicht so freundlich verfuhren die Politiker im Parlament miteinander. Fidesz (Bund Junger Demokraten MD)-Fraktionschef János Áder kritisierte die seiner Ansicht nach fortgesetzten Angriffe der Regierung gegen unabhängige Institutionen. Er nannte die Kritik am Obersten Staatsanwalt Péter Polt, Finanzaufsichtschef Károly Szász und Nationalbankpräsident Zsigmond Járai, der jetzt der "organisierte Angriff auf die Gerichte" gefolgt sei. Justizminister Peter Bárándy wies die Kritik scharf zurück. Nicht alle von Áder erwähnten Institutionen seien unabhängig, sagte er.

"Die Oberste Staatsanwaltschaft, die Finanzaufsicht und die Nationalbank hängen bis zu einem gewissen Grad von der vollziehenden Gewalt ab - nicht aber die Gerichte", so Bárándy. Man müsse mit der Kritik der Gerichte vorsichtig sein, was aber nicht bedeute, dass sie unantastbar seien. Einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Marketing Zentrum zufolge lehnen 79 Prozent der Befragten das Urteil des Szegeder Gerichts ab. 67 Prozent stimmen der Antwort Medgyessys an Lomnici zu, die Kritik Lomnicis halten 46 Prozent für berechtigt. (fp)