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Studie fordert mehr Vielfalt in Stadtparlamenten

16. August 2011

Wie es um Gleichberechtigung und Integration in einer Gesellschaft bestellt ist, lässt sich nicht zuletzt auch daran ablesen, welche Chancen zur politischen Mitgestaltung Menschen mit Migrationshintergrund haben.

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Auf dem Podium v.l.n.r.: Thomas Saalfeld, Karen Schönwalder, Stephan Ertner, Daniel Volkert, Cihan Sinaoglu (Foto: Stephan Röhl/Heinrich-Böll-Stiftung)
Tagung in Berlin zu Migranten in der PolitikBild: cc-by-sa/Stephan Röhl

Die Studie "Einwanderinnen und Einwanderer in den Räten deutscher Großstädte", die am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Stiftung Mercator durchgeführt wurde, untersuchte erstmals systematisch, wieviele Menschen mit Migrationshintergrund heute in den Räten deutscher Großstädte vertreten sind und inwieweit EinwanderInnen an politischen Entscheidungen teilhaben.

Die Studie zeigt, dass es einen enormen Nachholbedarf gibt, was die politische Repräsentanz von Migrantinnen und Migranten angeht. Nur vier Prozent der Ratsmitglieder in deutschen Großstädten haben einen Migrationshintergrund, obwohl rund 20 Prozent der Bevölkerung eine Einwanderungsgeschichte haben. In den Großstädten ist es sogar fast jeder Dritte.

Untersucht wurden 77 Großstädte mit mindestens 100.000 Einwohnern im Zeitraum von 2001 bis 2011, wobei die Stadtstaaten (Hamburg, Bremen) ausgeklammert wurden. Berlin wurde gesondert betrachtet.

Aufwärtstrend auf niedrigem Niveau

Als Hauptergebnis der Studie nannte Projektleiterin Karen Schönwälder, dass es Bewegung gibt: "Es gibt mehr Ratsmitglieder mit Migrationshintergrund. Wir haben 190 gefunden. Das ist ein Anstieg um über 50 Prozent gegenüber den zurückliegenden Kommunalwahlen."

Prof. Karen Schönwälder, Leiterin der Studie, am Rednerpult (Foto: Stephan Röhl/Heinrich-Böll-Stiftung)
Karen Schönwälder, Leiterin der Studie: "Es bewegt sich etwas."Bild: cc-by-sa/Stephan Röhl

Doch dieser Anstieg findet auf einem überaus niedrigen Niveau statt. Grundlage des positiven Trends ist einmal die Zunahme der Zahl der Städte, in denen Migranten/innen in die Räte gewählt wurden. Nur noch in 16 der 77 Großstädte sind die Räte homogen aus alteingesessenen Deutschen zusammengesetzt. Noch aber sind alle Stadträte weit davon entfernt, die Vielfalt der städtischen Bevölkerung widerzuspiegeln.

Große Unterschiede zwischen den Städten

Zwischen den Städten bestehen nach den Ergebnissen der Studie erhebliche Unterschiede. Frankfurt am Main ist der Spitzenreiter unter den deutschen Großstädten. Hier haben 15 Ratsmitglieder einen Migrationshintergrund. Auch Offenbach, Duisburg, Ludwigshafen und Stuttgart schneiden relativ gut ab. 20 Städte haben vier und mehr Ratsmitglieder mit Migrationshintergrund.

Bemerkenswert ist andererseits aber auch, dass einige Städte mit hohen Migrantenanteilen an der Bevölkerung - unter ihnen Mannheim, Heilbronn, Ingolstadt und Hagen - kein Ratsmitglied mit Migrationshintergrund aufweisen. In den ostdeutschen Bundesländern, wo der Anteil der Migrantedn an der Gesamtbevölkerung bei unter 5 Prozent liegt, gibt es in vier von elf Großstädten Ratsmitglieder mit Migrationsgeschichte.

Das Beispiel Berlin zeigt laut Studie, dass eine hohe Repräsentation von Einwanderern in der Politk erreichbar ist. Aber auch hier bestehen große Ungleichgewichte innerhalb der Stadt. Unter den Bundesländern ist Berlin, in dessen Abgeordnetenhaus 10 Prozent der Mitglieder einen Migrationshintergrund haben, führend. In den Bezirksverordneten-versammlungen hingegen liegt die deutsche Hauptstadt im Bundestrend. Einige Bezirke erreichen ähnliche Migrantenanteile wie das obere Drittel der Großstädte, andere haben kaum Mitglieder mit Migrationshintergrund.

Parteien sind gefordert

Viele der in standardisierten Umfragen und persönlichen Einzelinterviews befragten Ratsmitglieder berichteten einerseits vom wachsenden Interesse der Parteien an Kandidatinnen und Kandidaten mit Migrationshintergrund, waren aber der Ansicht, dass die Parteien noch mehr tun könnten, um Migranten/innen zu gewinnen.

Nach der Studie haben alle großen politischen Parteien Ratsmitglieder mit Migrationshintergrund in den Großstädten, doch ihre Zahlen unterscheiden sich erheblich. Den höchsten Anteil an Ratsmitgliedern mit Migrationshintergrund, gemessen an der Gesamtzahl der Mandate, gibt es mit 8 Prozent bei den Linken, gefolgt von den Grünen mit 7 Prozent und der SPD mit 5 Prozent. Bei Union (CDU/CSU) und FDP sind es dagegen nur jeweils zwei Prozent.

Nicht deutsch klingende Namen haben es schwer

Ergun Can, Stadtrat in Stuttgart, während der Diskussion (Foto: Stephan Röhl/Heinrich-Böll-Stiftung)
Ergun Can, Stadtrat in StuttgartBild: cc-by-sa/Stephan Röhl

Ergun Can ist Stadtrat für die SPD in Stuttgart und Vorsitzender des Netzwerks türkeistämmiger Mandatsträgerinnen und Mandatsträger. Er kennt die Hürden, die es beispielsweise bei Kommunalwahlen für Menschen mit Migrationshintergrund gibt: "Es ist bei Kommunalwahlen wichtig, wo man platziert ist - zumindest beim ersten Mal. Mit einem nicht deutsch klingenden Namen haben es viele schwer, nach vorne gewählt zu werden."

Can hob andererseits aber auch hervor, dass die Stadt Stuttgart das Thema "Integration und Migration" schon früh aufgegriffen habe, weil sie erkannt hatte, dass Vielfalt für die Industrie der Region sehr wichtig ist.

Türkeistämmige und Frauen ergreifen ihre Chancen

Den "typischen Kommunalpolitiker" oder die "typische Kommunalpolitikerin mit Migrationshintergrund" gibt es allerdings nicht - dazu sind die Biografien zu vielfältig. Bemerkenswert ist allerdings, dass migrantische Ratsmitglieder häufiger weiblich sind als nichtmigrantische. Mit 40 Prozent ist ihr Anteil höher als der Frauenanteil in den städtischen Räten insgesamt, der nur bei 33 Prozent liegt.

Hervorzuheben ist laut Studie auch der hohe Anteil der Türkeistämmigen unter den Ratsmitgliedern mit Migrationshintergrund. Obwohl in der öffentlichen Diskussion über die Türkeistämmigen häufig als Problemgruppe geredet würde, zeige die Studie, dass derartige Pauschalurteile falsch seien, so Schönwälder. Denn sie hätten sich "als besonders bereit zum politischen Engagement und zur politischen Mitgestaltung identifiziert".

Bei den Ratsmitgliedern mit Migrationshintergrund dominiert laut Schönwälder die erste Generation. Denn nach den Ergebnissen der Studie sind zwei Drittel von ihnen selbst eingewandert, nur ein Drittel sei komplett in Deutschland aufgewachsen.

Bildungsaufsteiger im Vordergrund

Aus der Studie geht auch hervor, dass rund zwei Drittel der Ratsmitglieder mit Migrationshintergrund einen Hochschulabschluss haben. Für bemerkenswert hält Schönwälder, dass es sich bei ihnen in hohem Maße um "Bildungsaufsteiger" handelt: "Das sind Leute, die haben es geschafft, nicht nur Abitur zu machen und zu studieren, sondern sich dann auch noch in den Parteien durchzusetzen und gewählt zu werden als Stadträte. Also das ist dann schon eine ganz bedeutende Leistung."

Die migrantischen Ratsmitglieder bringen zumeist vielfältige Erfahrungen in die Ratstätigkeit mit ein. Viele von ihnen waren zuvor in einem Ausländer- oder Integrationsbeirat tätig oder waren in Gewerkschaften oder Bürgerinitiativen aktiv.

Mitmischen auch ohne Parteizughörigkeit

Die migrantischen Ratsmitglieder bringen häufig vielfältige Erfahrungen in die Ratstätigkeit mit ein. Viele von ihnen waren zuvor in einem Ausländer- oder Integrationsbeirat tätig, in Gewerkschaften oder Bpürgerinitiativen aktiv. Unter ihnen gibt es aber auch solche, die bevor sie das Ratsmandat erhielten, nicht politisch aktiv waren.

Ezhar Cezairli, Stadtverordnete aus Frankfurt am Main, während der Diskussion (Foto: Stephan Röhl/Heinrich-Böll-Stiftung)
Ezhar Cezairli (rechts), Stadtverordnete in Frankfurt am MainBild: cc-by-sa/Stephan Röhl

Zu diesen gehört die türkeistämmige Ezhar Cezairli. Sie ist seit März dieses Jahres Stadträtin für die CDU in Frankfurt/Main. Ihre Eltern kamen in den 70er Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Ezhar war damals zehn Jahre alt.

Nach ihrem Studium der Zahnmedizin habe sie auch die Gesellschaft mitgestalten und an Entscheidungsprozessen teilnehmen wollen, sagt Ezhar Cesairli. Für sie stand daher von Anfang an fest: "Man kann mitmischen, auch ohne in einer Partei Mitglied zu sein. Eine Demokratie lebt ja davon, dass Bürger sich engagieren in bestimmten Initiativen oder in Vereinen. Da kann man schon sehr viel tun."

Keine Mehrheiten für eine Quote

Was die Einführung einer bestimmten Quote für Migranten in kommunalen Parlamenten angeht, so hält Canan Bayram, die für Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt, persönlich zwar viel davon, auch wenn die Chancen für eine Durchsetzung derzeit eher gering sind: "Es ist eben auch eine Möglichkeit, um bestehende Diskriminierungen abzubauen. Aber, dass es dafür Mehrheiten gibt, sehe ich im Moment ehrlich gesagt noch nicht."

Die Politikwissenschaftlerin Karen Schönwälder fordert dazu auf, die Vielfalt in den Stadtparlamenten nicht nur als Aufgabe der Parteien anzusehen, obwohl diese eine Schlüsselrolle spielen, weil sie überwiegend die Kandidaten und Kandidatinnen in den Kommunen aufstellen. Denn ob sich etwas bewege in einer Stadt hänge auch davon ab, "ob es in dieser Stadt eine vitale Zivilgesellschaft, eine Vielfalt sozialer Bewegungen gibt". Genau das zeige nämlich der Vergleich der unterschiedlichen Städte auch.

Autorin: Sabine Ripperger
Redaktion: Hartmut Lüning