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Studieren gegen Vorurteile und Missverständnisse

Ruth Reichstein2. November 2005

Der neue Studiengang Islamische Theologie in Amsterdam soll Radikalisierung der einen und Vorurteile der anderen Seite abbauen - nicht nur am Jahrestag der Ermordung von Theo van Gogh ein schwieriges Projekt.

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Die Freie Universität Amsterdam

Seit dem Mord an dem islamkritischen Filmemacher van Gogh durch einen fanatischen Islamisten vor einem Jahr (2.11.2004) suchen die Niederlande nach neuen Wegen der Integration. Eine Quelle für die Radikalisierung von jungen Muslimen sind nach Ansicht der Regierung auch Imame, die aus islamischen Ländern in die Niederlande kommen, um dort an den Moscheen zu wirken. Sie haben oft wenig bis gar keine Ahnung von der Lebenssituation in Europa - bisher beherrscht kaum ein Imam der offiziell rund 70 niederländischen Moscheen Holländisch. Die Regierung wünscht sich Imame mit Ausbildung in den Niederlanden. Seit diesem Herbst wird deshalb an der Universität Amsterdam das Fach Islamische Theologie angeboten.

Einarbeiten in die andere Religion

An der Universität von Amsterdam steht ein 34 Jahre alter Marokkaner (der seinen Namen nicht nennen möchte) vor seinen Studienkollegen an der Tafel. Es ist nicht einfach für ihn. Zwar ist er daran gewöhnt, vor Menschen zu sprechen. Aber diesmal ist es anders. Er wirkt aufgeregt. Denn er muss ausgerechnet seinen christlichen Kommilitonen den christlichen Gottesbegriff erklären. "Das ist schwierig", sagt er. "Wenn ich über meine eigene Religion rede, habe ich Argumente. Hier brauche ich erst einmal eine Basis."

Der Marokkaner ist einer von rund 40 Studenten, die sich für den Studiengang "Islamische Theologie" an der Universität Amsterdam entschieden haben. Seit diesem Herbst gibt es die neue Ausbildung. Im ersten Jahr des Bachelor-Studiengangs haben die Muslime gemeinsam mit den Christen Unterricht und müssen sich gegenseitig in die jeweils andere Religion einarbeiten. Danach trennen sich die Studenten nach ihren verschiedenen Spezialgebieten.

Schon lange wurde in den Niederlanden über eine solche Ausbildung diskutiert. Aber den Ausschlag hat letztendlich der Mord an dem Islam-kritischen Filmemacher Theo von Gogh gegeben. Er war im Dezember 2004 von einem fanatischen Islamisten auf offener Straße erstochen worden. Anschließend hatte es in den Niederlanden gewalttätige Ausschreitungen sowohl gegen muslimische als auch gegen christliche Einrichtungen gegeben. "Danach war die Zeit reif, um das durchzusetzen", sagt Professor Henk Vrom. Er ist verantwortlich für den neuen Studiengang: "Jetzt geschieht endlich etwas. Es ist wichtig, dass Muslime jetzt die Möglichkeit bekommen, ihre Theologie selbst zu betreiben und auch über ihren Glauben nachzudenken."

Über den Tellerrand

Die Ausbildung dauert drei Jahre. Unterrichtssprache ist Niederländisch. Manchmal wird allerdings auch etwas arabisch gesprochen, um die Fachbegriffe in beiden Sprachen zu beherrschen. Die Studenten lernen nicht nur die Geschichte ihrer eigenen Religion, islamisches Recht und Koran-Verse, sie sollen auch etwas über andere Religionen und Kulturen erfahren: Religionsphilosophie, Glaube und Wissenschaft, Buddhismus, Christentum, säkulare Ethik, Religion und Politik stehen auf dem Lehrplan - die Studenten sollen auch Fremdes kennen und sich mit Argumenten auseinanderzusetzen lernen.

Über 180 Personen hatten sich als Interessenten gemeldet. Ungefähr 40 sind ausgewählt worden, meist ägyptischer oder marokkanischer Herkunft. Die meisten sind allerdings bereits in den Niederlanden geboren und dort auch groß geworden. Sie sollen nach ihrem Studienabschluss vor allem in Gefängnissen und Krankenhäusern arbeiten, um den Muslimen dort zur Seite zu stehen und mit den Verantwortlichen über mögliche Probleme sprechen.

Berufsziel: Brücken schlagen

Es ist aber nicht gesagt, dass die Absolventen irgendwann tatsächlich in Moscheen predigen werden. Denn wer vor den Gläubigen spricht, bleibt den Moscheevereinen überlassen. Ganz unabhängig von ihrem zukünftigen Arbeitsplatz sollen die Studienabgänger aber vor allem Brücken schlagen zwischen Muslimen und Christen - und dabei helfen, Vorurteile abzubauen.

Wenn sich der neue Studiengang bewährt, will die Fakultät von Henk Vrom noch einen Schritt weiter gehen: Die muslimischen Studenten in anderen Fächern sollen die Möglichkeit bekommen, einige Monate islamische Theologie zu belegen, um so eine bessere Kenntnis ihrer eigenen Religion zu bekommen. So, glaubt Henk Vrom, würden viele radikale Ansichten und Missverständnisse von selbst verschwinden.