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Substanzen, Stoffe, Standorte

Alexander Kudascheff29. Oktober 2003

So eine Schlacht in den Kulissen, aber auch auf offener Bühne hat es in Brüssel wohl noch nie gegeben. Seit Jahren beharken sich dort die Chemie-Lobbyisten. Der Einsatz: Arbeitsplätze, Umwelt und Gesundheit.

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Zwei und halb Jahre lang ging der Kampf - zwischen der Chemieindustrie und ihren mächtigen Verbänden auf der einen Seite - und der ebenso mächtigen Kommission mit der sympathischen Umweltkommissarin Wallström auf der anderen Seite. Und es ging um Substanzen, Stoffe und Verbindungen, um Allergien und Gesundheitsrisiken, um Arbeitsplätze und Kosten, um abwandernde Forscher, um Wettbewerbsfähigkeit, um den Standort Chemie - es ging um ein Regelwerk mit 1200 Verordnungen, um eine Behörde, die alles überwachen und kontrollieren wird.

Erbitterter Grabenkrieg

Begonnen hatte es mit einem Weißbuch zur Chemikalienpolitik der EU, das die Umweltkommissarin Wallström vorgelegt hatte. Das Ziel ihrer Politik: alle seit Jahrzehnten im Einsatz befindlichen chemischen Substanzen ( das sind rund 30.000) in den nächsten Jahren auf Kosten der Industrie zu erfassen und zu bewerten - und dann praktisch neu zuzulassen oder aus dem Verkehr zu ziehen. Der Sinn: endlich sollte die Chemie Verantwortung tragen für Stoffe, die Krebs oder andere Krankheiten auslösen. Ein Aufschrei war die Folge - zuerst von der Chemieindustrie. Sie sah bis zu 1,7 Millionen Arbeitsplätze vernichtet und Milliarden an Kosten auf die Firmen zukommen. Dann vom Bundeskanzler Schröder selbst. Am Rande eines EU-Gipfels in Barcelona ( März 2002) nahm er sich nächtens die Kommission zur Brust. So gehe es nicht, daß die Chemie-Industrie in Europa und Deutschland einfach platt gemacht werde, weil man ein paar Umweltziele verfolgen wolle. Das werde man mit sich nicht machen lassen, so ein kämpferischer Schröder.

Und seitdem tobt ein erbitterter Grabenkrieg - zwischen der Kommission, allen voran Frau Wallström, und Berlin. Und Schröder machte schnell auf Chefart deutlich, dass er nicht mit sich spaßen lasse - und nahm sich Kommissionspräsident Prodi zur Brust, der zwar nicht einknickte, aber von da an taktisch rumlavierte. Außerdem suchte Schröder sich Bundesgenossen - er fand sie (wenig verwunderlich) in Paris und (schon erstaunlicher) in London.

Neues bürokratisches Monster

Danach war klar: gegen die großen Drei ist Wallström chancenlos. Also wurde die Richtlinie immer weiter verwässert - sehr zum Ärger der Umweltbewegungen, sehr zur Freude der Chemieindustrie, der das aber immer noch nicht reichte. Und dann schrieb der letzte europäische Gipfel in Brüssel ganz versteckt in die Schlussfolgerungen: für die Chemiekalienrichtlinie sei nicht mehr nur Margot Wallström, sondern auch der erzliberale Kommissar für den Binnenmarkt, Frits Bolkenstein, zuständig. Damit war der Bewegungsspielraum von Wallström noch stärker eingeengt.

Mittlerweile ist vom ursprünglichen Ziel der Richtline nicht viel übrig geblieben. Aber die Industrie wird sich trotzdem ärgern. Denn mit dieser Richtlinie wird ein bürokratisches Monster erbaut - wenn der Rat und das Parlament es nicht auf die lange Bank schieben - bis es im nächsten Jahr sowohl eine neue Kommission als auch ein neues Parlament gibt. Und vielleicht arbeitet Margot Wallström dann nicht mehr in Brüssel, sondern wieder in Stockholm, so mag der Kanzler in Berlin hoffen.