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Superlativen am Zarenhof

Ingrid Arnold2. Mai 2003

Alexander Sokurows Filmexperiment "Russian Ark" fängt 300 Jahre russischer Geschichte in einer einzigen, langen Einstellung ein. Der internationale Erfolg ist für die deutsch-russische Koproduktion eine Überraschung.

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Nur einige der 3000 Darsteller und Statisten

Im Wettbewerb der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes wird mit "Vater und Sohn" zum dritten Mal in Folge ein Film des russischen Regisseurs Alexander Sokurow laufen. Sein letztjähriger, spektakulärer Beitrag "Russian Ark" ist mittlerweile ein internationaler Kinoerfolg: In den USA läuft die filmische Zeitreise durch die russische Geschichte seit über 20 Wochen erfolgreich in den Programmkinos. "Für einen kleinen europäischen Film ist das schon sehr selten", betont der Produzent Jens Meurer von Egoli Tossell.

"Russian Ark" ist eine deutsch-russische Koproduktion und damit "der neunt-erfolgreichste deutsche Film in den USA seit 'Das Boot' 1982", ergänzt Meurer gegenüber DW-WORLD. In Großbritannien, Frankreich, Holland und Italien ist die Resonanz ebenfalls "überwältigend". Auch die Entstehung von "Russian Ark" ist eine Geschichte der Superlativen: Es ist der erste Film in Spielfilmlänge, der in einer einzigen Einstellung gedreht wurde.

Der ultimative Director's Cut

Tilman Büttner
Tilman Büttner, Kameramann, bei den Dreharbeiten zu "Russian Ark"

Zu realisieren war dieses wahnwitzig scheinende Projekt nur, indem der Film digital auf Festplatte gespeichert wurde - denn eine herkömmliche 35mm-Filmrolle kann nur maximal zwölf Minuten bewegtes Bild aufzeichnen. Die opulente Handlung sollte sich in einer ununterbrochenen Bewegung durch die weitläufige Anlage der Eremitage in St. Petersburg entfalten. Extra für diese Anforderung wurde eine tragbare Kamera entwickelt, mit Speicherplatz für bis zu 100 Minuten unkomprimierter Bilder. Nach drei Abbrüchen zu Beginn des einzigen Drehtags, erzählt Meurer, wurde der 96-minütige Film dann in nur einem kompletten Take aufgenommen. Eine gemeinsame Probe für die rund 3000 Darsteller und Komparsen gab es vorher nicht, denn auch "dafür hätte das gesamte Museum stillgelegt werden müssen", erklärt Meurer.

Sokurow und 22 Regieassistenten konnten zwar einzelne Abschnitte proben, aber tatsächlich hatte Kameramann Tilman Büttner - der schon bei "Lola rennt" die Steadicam führte - nur einen einzigen Durchlauf in Echtzeit. Seine Bilder begleiten nun nicht nur die etwas dialoglastige Rahmenhandlung, sondern streifen wie nebenbei auch durch Spielszenen aus 300 Jahren russischer Geschichte und schwelgen nicht zuletzt durch die mit Kunstschätzen prall gefüllten Räume des weltberühmten Museums.

Für die Zukunft bewahrt

Die Eremitage in St. Petersburg.
Die Eremitage in St. Petersburg

Zu Beginn verschlägt es den Ich-Erzähler aus der heutigen Zeit - den Filmemacher hinter der Kamera, was man aber nicht unbedingt gleich versteht - in die Eremitage. Dort trifft er als Kenner der russischen Geschichte auf einen französischen Aristokraten des 19. Jahrhunderts, den Marquis de Custine. So treffen sich historischer und heutiger Blick, und Sokurovs Perspektive misst sich an der von außen. Das Ergebnis ist eine nicht immer leicht einzuordnende, in jedem Fall eigenwillige Zeitreise.

1917 war das Winter-Palais, das älteste Gebäude der Eremitage, Schauplatz der Oktober-Revolution. Von Peter dem Großen erbaut, wurde die Palastanlage von den folgenden Zaren erweitert. Katharina die Große schließlich richtete das berühmte Museum ein - um mit ihrer Kunstsammlung alle anderen europäischen Monarchen zu übertreffen. Diesen beiden Herrschern begegnet die rastlose Kamera ebenso wie den letzten Bewohnern der einstigen Zarenresidenz, Nikolaus II. und seiner Familie. Dennoch ist der Blick des Films, der sich auf Russlands vorsowjetische Vergangenheit beschränkt, nicht nur nostalgisch. "Russian Ark" ruft vielmehr die Wurzeln Russlands in der europäischen Kulturgeschichte in Erinnerung, die in der Eremitage bis heute bewahrt sind - wie auf einer Arche.

Alexander Sokurow
Der russische Regisseur Alexander Sokurow

Alexander Sokurow, momentan einer der produktivsten russischen Regisseure, erregte in den letzten Jahren unter anderem mit den ersten beiden Teilen seiner "Führer"-Trilogie Aufsehen: "Moloch" über Hitler und "Taurus" über Lenin. Seine Filme entstehen meist als internationale Koproduktionen. Weil die aufwändige Produktion von "Russian Ark" unkalkulierbare Risiken barg, war die Finanzierung Meurer zufolge "nur mit großer Leidenschaft und altmodischer Risikobereitschaft für kulturelle Dinge" auf die Beine zu stellen. Über sieben Jahre dauerte es von der ersten Idee bis zur Fertigstellung des Films. Dass St. Petersburg 2003 seinen 300. Geburtstag feiert ist, so Meurer, damit nur "ein schöner Zufall".