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Türkei: Schlechte Werbung für EU-Beitrittsziel

10. März 2005

Die gewaltsame Auflösung einer Frauendemo in Istanbul und die Kampagne türkischer Behörden gegen "kurdische Tiernamen" sind schlechte Werbung für Ankaras angestrebten EU-Beitritt, meint Baha Güngör in seinem Kommentar.

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Der inzwischen als typisch geltende Reflex ist wieder einmal aktiviert: Gerade in Zeiten, in denen die Türkei eigentlich gute Fortschritte in Richtung Europäische Union verzeichnet, gibt es wieder einmal Zeichen für einen Rückfall in alte Zeiten. Was in den letzten Tagen an Berichten und Bildern aus der Türkei kommt, erhöht das Risiko von Sympathieverlusten für die Türkei in Europa.

Chance vertan

Wenn die türkische Polizei mitgespielt hätte, dann hätten europäische Medien am Wochenende (5./6.3.) am Beispiel von Demonstrationen in Istanbul durchaus positiv über Reformen zugunsten der türkischen Frauen in den letzten Monaten berichten können. Im Rahmen dieser Reformen gab es schließlich schon viel Applaus aus Europa für die Bemühungen der Türkei, die Gleichstellung der Geschlechter juristisch auf ein zeitgenössisches Niveau zu heben. Doch es kam anders: Just vor dem Treffen der EU-Troika zur Lagebesprechung mit dem türkischen Außenminister Abdullah Gül am Montag (7.3.) prügelten bis auf die Zähne bewaffnete türkische Polizisten auf wehrlose Demonstrantinnen in Istanbul ein. Sie schlugen vor laufenden Kameras erbarmungslos mit Schlagstöcken zu und scheuten auch nicht vor Fußtritten gegen wehrlose Frauen zurück.

Argumente der Türkei-Gegner gestärkt

Diese Bilder stärken in Deutschland und Europa die Gegner einer Heranführung der Türkei an Europa - ebenso wie die beharrliche Unterbindung einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Tod von Hunderttausenden Armeniern 1915 oder das gerichtliche Vorgehen von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan gegen missliebige Karikaturisten. Hinzu kommen übereifrige Staatsbeamte, die wissenschaftliche Namen von Tieren als angebliche Bedrohung für die Einheit von Land und Volk auf den Index setzen mit der Behauptung, diese Namen seien kurdischen oder armenischen Ursprungs.

Zweifel an ernster Absicht Ankaras

Statt sich immer wieder über die massiven Widerstände gegen einen türkischen EU-Beitritt in Europa aufzuregen, sollten die türkischen Verantwortlichen besser selbst aktiv werden und Missstände bekämpfen. Wenn im türkischen Ministerium für Umwelt und Forstwirtschaft der wissenschaftliche Namen wie 'Vulpes Vulpes Kurdistanicum' (für Rotfuchs) oder 'Ovis Armeniana' (für Wildschaf) ernsthaft als Gefährdung der nationalen und territorialen Einheit verstanden werden, dann gibt das Anlass zu Besorgnis über die Ernsthaftigkeit der türkischen Europa-Visionen.

Welche Vorurteile werden zementiert?

Wie aus der türkischen liberalen Tageszeitung "Radikal" hervorgeht, wird in Ankara tatsächlich gedacht, ausländische Wissenschaftler hätten die Tiernamen einst bewusst so festgelegt, um ihre Vorurteile gegen die Türkei zu zementieren. Statt sich mit derart absonderlichen Argumenten zu beschäftigen, sollte in Ankara lieber selbstkritisch gefragt werden: Werden nicht umgekehrt bestehende Vorurteile gegen die Türkei zementiert, wenn wohlgemeinte Rückfragen nach dem Stand der Reformbemühungen und ihrer Umsetzung als europäische Arroganz und Bevormundung abgetan werden? Ebenso wie gefragt werden muss, wie brutale Schläge von Polizisten auf Frauen sich mit dem Ziel einer modernen, europäischen Türkei vertragen.

Türkische Führung sollte sich besinnen

Die Zeit wird knapp bis zum 3. Oktober, dem anvisierten Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei. Wenn sich die türkische Staatsführung nicht schnellstens eines besseren besinnt, wird eine 90prozentige Mehrheit in der französischen Regierungspartei UMP gegen einen türkischen EU-Beitritt in ganz Europa auf mehr Verständnis stoßen als die Argumente für eine europäische Perspektive der Türkei. Schließlich befindet sich das Land an der Schnittstelle zwischen den Kulturen und Religionen und gilt - noch - als Musterbeispiel für die Koexistenz von weltlicher Demokratie und islamischer Volksreligion.

Baha Güngör
DW-RADIO/Türkisch, 7.3.2005, Fokus Ost-Südost