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Türken stimmten für Verfassungsreform

12. September 2010

In einem Referendum hat sich die Bevölkerung hinter Ministerpräsident Erdogan gestellt und für weitreichende Reformen gestimmt. 58 Prozent billigten den Kurs der Regierung. Die deutsche Regierung zeigt sich erfreut.

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Ministerpräsident Erdogan bei der Stimmabgabe (Foto: AP)
Ministerpräsident Erdogan gibt sein Votum abBild: AP

An einem schicksalsträchtigen Tag, dem 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980, haben in der Türkei fast 50 Millionen Stimmberechtigte über ein Paket mit 26 grundlegenden Verfassungs-Änderungen entschieden. Betroffen sind insbesondere die Strukturen bei Armee und Justiz. Die derzeit geltenden Gesetze sind weitgehend 1982 von den damaligen Militärs durchgedrückt worden. Die Abstimmung am Sonntag (12.09.2010) war überschattet vom neu aufgeflammten Streit zwischen säkularen und islamischen Kräften im EU-Anwärterland.

Referendum ein Test für Erdogans Politik

Die Volksbefragung galt auch als Vertrauenstest für den konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch geprägte Partei AKP. Ein knappes Jahr vor der für den Sommer 2011 geplanten Parlamentswahl gelang es Erdogan, auch jene Kräfte für sich zu mobilisieren, die sonst wohl nicht für seine AKP stimmen würden.

Die Opposition dagegen wirft dem Regierungschef vor, er wolle vor allem die Justiz unter seine Kontrolle bringen. Sie sehen in der angestrebten Reform einen weiteren Versuch der konservativ-islamischen Kräfte, die weltliche Ausrichtung der Türkei zu untergraben und den Einfluss der Religion zu stärken.

Reform des Verfassungsgerichts

Polizisten vor dem Eingang zum Verfassungsgericht in Ankara (Foto: AP)
Verfassungsgericht in AnkaraBild: AP

Zu den umstrittensten Veränderungen zählt die Reform des Verfassungsgerichts, das gemeinsam mit dem Militär als "Hüterin des säkularen Charakters" des Landes gilt. Das Parlament soll künftig mehr Einfluss auf die Bestellung von Richtern erhalten. Der Kreis der in Frage kommenden Kandidaten für die wichtigsten Posten soll vergrößert, ihre Amtszeit auf zwölf Jahre beschränkt werden. Zudem sollen auch Einzelpersonen das Verfassungsgericht anrufen können.

Die Militärgerichte sollen künftig nur noch Fälle aus ihrem Bereich behandeln und dürfen nicht mehr über Zivilisten urteilen. Verfahren wegen Verstößen gegen die Staatssicherheit und die Verfassung würden von zivilen Gerichten übernommen. Mit der Reform würde zugleich ein Passus aufgehoben, der eine Strafverfolgung der Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats verhindert. Der Rat wurde nach dem Militärputsch von 1980 gebildet. Damit wäre der Weg für eine juristische Aufarbeitung der Zeit frei. "Das Volk hat die Möglichkeit, den Militärherrschern von damals eine Quittung zu verpassen", sagte der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der sich für ein 'Ja' aussprach. Erdogan hat bisher jedoch offen gelassen, ob dies auch geschehen soll.

Ein Ehepaar bei der Stimmabgabe (Foto: dpa)
Stimmabgabe in einem Wahllokal in IstanbulBild: picture-alliance/dpa

Sechs Millionen Stimmen Vorsprung

Die Gegner der Verfassungsreform siegten nach Berichten der nationalen Fernsehsender nur in einigen Provinzen im äußersten Westen der Türkei sowie in vereinzelten Gegenden von Anatolien. Im gesamten Rest des Landes waren die Ja-Stimmen in der Mehrheit. Insgesamt hat das Ja-Lager einen Vorsprung von rund sechs Millionen Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag trotz eines Boykott-Aufrufs der Kurdenpartei BDP bei landesweit 76 Prozent. Im kurdischen Südosten fiel sie danach stellenweise auf unter zehn Prozent. Erdogan selbst bezeichnete die angestrebten Verfassungsänderungen als weiteren Schritt, um den Bemühungen zu einem EU-Beitritt neuen Schwung zu geben. Das lange von Militärregierungen beherrschte Land werde so demokratischer und moderner.

Westerwelle erfreut

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) äußerte sich erfreut über den Erfolg des Referendums. Die Verfassungsreform sei ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg der Türkei nach Europa. Die Debatte sei aber noch nicht beendet. "Ich bin zuversichtlich, dass der Reformprozess in der Türkei im Sinne einer weiteren Öffnung der Gesellschaft fortgeführt wird."

Auch die Europäische Union (EU) begrüßte die Annahme von Verfassungsänderungen, forderte zugleich jedoch weitreichendere Reformen. Die geplanten Neuerungen seien "ein Schritt in die richtige Richtung", hieß es in einer Erklärung von EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle. Die tatsächliche Bedeutung für die Lebenswirklichkeit in der Türkei werde von der Umsetzung der Verfassungsänderungen abhängen.

Autorin: Susanne Eickenfonder (dpa, rtr, dapd, afp)
Redaktion: Siegfried Scheithauer/Oliver Samson

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