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Taiwan - Machtwechsel im Parlament

Martin Fritz, Tokio (NDR)2. Dezember 2001

Nach fünf Jahrzehnten der Vorherrschaft der Kuomintang haben die Wähler in Taiwan am Samstag (1. Dezember) für einen Machtwechsel im Parlament gestimmt. Es war ein klassischer politischer Erdrutsch.

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Die einst dominante Kuomintang, die Nationalpartei, hat ihre Parlamentsmehrheit verloren. Sie büßte fast die Hälfte ihrer Mandate ein. Ihr gehören nur noch knapp 70 Sitze. Der Herausforderer, die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) von Präsident Chen Shui-bian, legte deutlich zu. Sie hat knapp 90 Sitze gewonnen. Aber für die absolute Mehrheit von mehr als 120 Sitzen reichte es bei weitem nicht. Deshalb dürfte sich zum ersten Mal in der Geschichte von Taiwan eine Koalition bilden.

Die möglichen Partner des Präsidenten sind ausgerechnet seine alten Gegner. Denn die bisherige Regierungspartei Kuomintang hat vor allem deshalb verloren, weil ihre wichtigsten Politiker eigene Parteien gründeten. Nämlich der beliebte ehemalige Präsident Lee Teng-hui und der ehemalige Gouverneur Taiwans James Soong. Ihre Parteien kamen zusammen auf knapp 50 Sitze. Ungefähr so viele, wie die Kuomintang verloren hat. Das heißt, Präsident Chen Shui-bian hat es zwar jetzt leichter mit regieren, aber er wird seine Mehrheit im Parlament immer wieder neu organisieren müssen.

Eigenständig oder chinesisch – das ist nach wie vor die Frage

Bereits in den kommenden Tagen und Wochen rechnen viele politische Beobachter damit, dass einige Abgeordneten die Seiten wechseln werden. Die entscheidende Frage der Koalitionsbildung in Taiwan lautet: Wie halte ich es mit Festland China. Präsident Chen Shui-bian möchte eine Allianz der nationalen Stabilisierung bilden. Als Partner kommen nur Parteien in Frage, die wie Chens Fortschrittspartei gegenüber Peking einen eigenständigen Kurs steuern. Das entspricht dem Trend auf der Insel. Immer mehr Taiwanesen freunden sich mit den Gedanken einer dauernden Eigenstaatlichkeit an. Dagegen hatte die Kuomintang in den letzten Jahrzehnten immer an der Vision eines einzigen chinesischen Staates festgehalten.

Festland-China, wie man die kommunistische Volksrepublik in Taiwan nennt, betrachtet den Inselstaat vor seiner Küste seit der Gründung vor 50 Jahren als abtrünnige Provinz und will ihn heim ins Reich der Mitte holen. Vorbild sind die Provinzen Hongkong und Macao, die jetzt zu China gehören aber eine eigene politische Verwaltung behalten haben.

Wirtschaftlicher Aufschwung ist oberstes Ziel

Die Taiwanesen lehnen dieses Modell - "ein China, zwei Systeme" genannt - ab. Das unklare Wahlergebnis macht die Konsensbildung über die nationale Frage für Taiwan nicht viel einfacher. Ohne Einigkeit in der Kernfrage dürfte es vor allem schwierig werden, die wirtschaftlichen Reformen voranzutreiben. Taiwan erlebt gerade die schwerste ökonomische Krise seiner Geschichte. Die schwimmende Chip-Fabrik ist durch den weltweiten Absturz der Halbleiterindustrie schwer getroffen worden. Die Börse ist binnen eines Jahres um die Hälfte abgestürzt. Die Arbeitslosigkeit hat Rekordhöhen erreicht. Immer mehr Unternehmen verlassen Taiwan, um ihre Fabriken ins billigere China zu verlagern. Dadurch wird Taiwan zunehmend abhängiger von China. Vor allem deshalb hat Peking vor dieser Wahl die sonst üblichen Drohgebärden unterlassen. Trotzdem haben die Kräfte zugunsten der Unabhängigkeit weiteren Zulauf bekommen, ohne dass man dies als eindeutigen Trend deuten kann.