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"Tatsächlich wurde ein dicker Strich gezogen"

3. Dezember 2003

- Der Umgang mit den Stasi-Akten in der Tschechischen Republik

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Bonn, 3.12.2003, DW-radio, Vladimir Müller

In allen früheren kommunistischen Ländern gehörten die dortigen Geheimdienste zu den Stützen des Regimes. Sie schirmten die Machthaber vor allem gegen den so genannten "inneren Feind", das heißt die Opposition ab. Sie bespitzelten Regimekritiker, unternahmen gezielte Provokationen, und über all das legten sie haufenweise Akten an. Wie ging man mit diesen Akten nach der "samtenen Revolution" in der Tschechischen Republik um?

Am 17. November 1989, nach mehr als 40 Jahren, brach die kommunistische Diktatur auch in der Tschechoslowakei endgültig zusammen. Aus den nachfolgenden Diskussionen über das Überwachungssystem des alten Regimes wurden Mitte 1991 erste Konsequenzen gezogen: Im westlichen Teil der Tschechoslowakei, aus dem 1993 die Tschechische Republik hervorgegangen ist, wurde das so genannte "Lustrationsgesetz" verabschiedet. In der Praxis bedeutete dieses Gesetz zur "Durchleuchtung", dass die ehemaligen Mitarbeiter der tschechoslowakischen Staatssicherheit und hohe kommunistische Kader keinen Zugang zu den wichtigen Stellen in der Staatsverwaltung erhalten sollten. Der tschechische Politologe Jiri Pehe:

"Bis heute bleibt fraglich, inwieweit diese Lösung die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter aus dem öffentlichen Raum vertrieben hat, wo sie sichtbar waren, und sie sozusagen in den Untergrund zwang. Dort konnten sie sich wirtschaftlichen Aktivitäten widmen. Viele von ihnen nutzten frühere Beziehungen und eigene finanzielle Möglichkeiten, so dass sie heute eine herausragende Position in der tschechischen Wirtschaft einnehmen."

Vier Jahre später, am 1. Januar 1995, wurde das "Amt für die Untersuchung und Dokumentation der Verbrechen des Kommunismus" ins Leben gerufen. Seine Aufgabe ist es, die Straftaten des einstigen Geheimdienstes für eventuelle Gerichtsprozesse zu untersuchen und zu dokumentieren. Viele Unterlagen der Staatssicherheit wurden zwar durch deren Offiziere Ende 1989/Anfang 1990 vernichtet. Im Vergleich zu der Aktenvernichtung in der DDR ist dies jedoch in der Tschechoslowakei nicht so gründlich und systematisch durchgeführt worden, auch waren hier nicht alle Unterlagen zentral gelagert.

Wie man mit diesen Akten umgehen sollte, war zunächst unklar. Viele forderten einen sogenannten "dicken Strich" unter die Vergangenheit. Selbst frühere Dissidenten warnten vor unabsehbaren Folgen und einer Spaltung der Gesellschaft. Man befürchtete, eine Veröffentlichung der Namen von einstigen Mitarbeitern der Staatssicherheit könnte zu einer Hexenjagd führen. Es kam anders: Viele der unter Verdacht der Geheimdienst-Mitarbeit stehenden Politiker sind vor Gericht gezogen, wo ihnen bestätigt wurde, dass sie nicht für die Staatssicherheit gearbeitet hätten. Kein Wunder bei den Richtern, die in ihrer Mehrzahl bereits unter den Kommunisten Recht gesprochen haben.

"Man kann sagen, dass dieser dicke Strich tatsächlich gezogen wurde. Denn was uns auf der Ebene des Strafrechts gelungen ist, ans Licht und vor allem vor Gericht zu bringen und bestrafen zu lassen, ist in Zahlen ausgedrückt sehr traurig," sagt Jan Srb, Sprecher des "Amtes für die Untersuchung und Dokumentation der Verbrechen des Kommunismus" in Prag. Von den unzähligen Fällen, die seine Behörde ins Rollen brachte, kam es lediglich zu etwa 20 rechtsgültigen Verurteilungen.

Bereits 1996 bekamen die Tschechen per Gesetz die Möglichkeit, ihre eigenen Stasi-Akten einzusehen. Doch es waren nicht viele, die in den folgenden Jahren davon Gebrauch gemacht haben. Zuletzt nur einige Hundert im Jahr.

"Die Menschen wurden enttäuscht, weil sie dort nicht viel erfahren hatten: Alle persönlichen Angaben wurden geschwärzt. Sie konnten zum Beispiel nicht erfahren, wer konkret sie bespitzelt hatte."

Auf wenig Interesse stieß schließlich auch die Veröffentlichung der etwa 75.000 Namen der Geheimdienst-Mitarbeiter im Januar 2003. Zum einen, weil diese Namenslisten inoffiziell bereits bekannt waren: Ein ehemaliger Regimekritiker und Bürgerrechtler hatte sie schon 1990 ins Internet gestellt. Das Desinteresse der Öffentlichkeit hat aber noch andere Gründe: Man diskutiert in Tschechien nicht mehr darüber, wer freiwillig oder unter Zwang mit der Staatssicherheit kooperiert hat, sondern wie man sich im allgemeinen mit dem Erbe des Kommunismus auseinandersetzen soll: War dieses Regime den Tschechen aufgezwungen oder war es ein hausgemachtes Gebilde?

"Die Debatte ist philosophischer und inhaltsvoller geworden, vielleicht wegen des wachsenden Einflusses der Kommunistischen Partei."

Diese ist in Tschechien immer noch unter ihrem alten Namen tätig: Bei den letzten Parlamentswahlen erhielt sie sogar fast 19 Prozent der Stimmen und wurde zur drittstärksten Kraft im Parlament. So bekommt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durchaus eine aktuelle Note: Vor einigen Wochen zum Beispiel wurde vor allem von jungen tschechischen Künstlern der Aufruf "Mit Kommunisten redet man nicht" veröffentlicht. Vierzehn Jahre nach der Wende fängt man in der Tschechischen Republik von neuem an, die Vergangenheit zu verarbeiten. Spät, aber nicht zu spät, meint der Politologe Jiri Pehe:

"Ich persönlich hoffe, dass es der Anfang eines Prozesses ist - ähnlich wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Dort gab es in den 50er Jahren auch keine große Diskussion über die Nazi-Vergangenheit. Die Leute nämlich, die diese Diskussion hätten führen sollen, hatten selbst Schuld auf sich geladen." (fp)