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Tauwetter in Russland

Stephan Hille, Moskau12. April 2005

Eisangeln ist in Russland ein beliebtes Hobby. Je höher jedoch die Temperaturen steigen und je stärker das Eis schmilzt, desto gefährlicher wird das Eisangeln. Für manchen Angler wird die Leidenschaft lebensgefährlich.

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Stephan Hille
Stephan Hille

Im europäischen Teil Russlands scheint der Winter nun endgültig vorbei. In Moskau zumindest tauen in der Frühlingssonne die letzten Schneehaufen, die von den Räumfahrzeugen an den Straßenrändern zusammen geschoben wurden. Manch schmelzender Schneehügel gibt noch ein Auto frei, das vom Besitzer entweder nicht vermisst oder aber lange Zeit entbehrt wurde. Noch immer brüllt die Zentralheizung, trotz 14 Grad plus Außentemperatur. Ein paar Tage nur noch. Es scheint, als traue die Stadtverwaltung der neuen Jahreszeit noch nicht. Noch immer haben die meisten Haushalte keine Regler an ihren Heizkörpern, daher werden nun überall die Fenster aufgerissen.

Fußgänger brauchen nun nicht mehr das Risiko zu fürchten, von einem sich von der Dachrinne lösenden Eiszapfen erschlagen zu werden. Dafür herrscht für die Rettungskräfte des Katastrophenschutzes nun erhöhte Alarmbereitschaft. Denn eine Gruppe von Liebhabern der kalten Jahreszeit weigert sich beharrlich, den Winter zu verabschieden: Die Eisangler.

Belächelte Westler

Obwohl nun die Eisdecke an Flüssen und Seen täglich dünner wird, zieht es sie immer noch raus auf das inzwischen gefährliche Eis. Russen wird häufig eine lebensverachtende Risikobereitschaft als Charakterzug zugeschrieben. Kaum ein Autofahrer, der sich anschnallt. Westler, die es im Taxi dennoch tun, werden spöttisch belächelt und gelten als Weicheier.

Die Eisangler müssten eigentlich das Risiko kennen, schließlich ertrinken jedes Jahr im Frühling etliche russische Männer, die auf den Flüssen einbrechen. Jedes Jahr zeigen die Fernsehnachrichten die gleichen Bilder: Ganze Gruppen von Eisfischern stehen auf Eisschollen, die plötzlich auf den großen Seen abbrechen und abtreiben.

Aus der Geschichte lernen

Vor dem Ertrinkungstod helfen dann nur die Hubschrauber des Katastrophenschutzes, doch für viele kommt jede Hilfe zu spät. Ihnen geht es dann wie dem Heer des Deutschen Ritterordens, das im April des 13. Jahrhunderts in der Schlacht um die Hansestadt Nowgorod von dem russischen Fürsten Alexander Newski auf das schwache Eis des Peipussees getrieben wurde und dort einbrach. Alexander Newski wurde darauf zu einem Volkshelden. Jeder Russe, und damit auch jeder Eisangler kennt diese Geschichte.

Doch während die deutschen Ordensritter unfreiwillig auf das Eis gerieten, ziehen heute, acht Jahrhunderte später, jedes Jahr von neuem die Eisangler auch dann, wenn man es nicht mehr tun sollte, freiwillig auf die gefährliche Eisdecke.

Glauben an gütige Kraft

Zu groß ist offenbar die Leidenschaft dafür, mit Angelschnur, Eisbohrer und Filzstiefeln stundenlang vor einem Handteller großen Eisloch auszuharren und darauf zu hoffen, dass etwas anbeißt oder auch nur die Ruhe der Natur zu genießen, als dass die Eisangler im Frühjahr von ihrem Hobby lassen können.

"Unsinn", schimpft die russische Zeitung "Moscow News". Dahinter verberge sich lediglich das nicht zu zerstörende Vertrauen der Russen, "dass eine gütige Kraft - ob Gott, Glück oder die Regierung - bereit steht, einem aus der Patsche zu helfen, in die man sich selbst begab ..."