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Politik

Die Lehren aus dem Fall Anis Amri

4. Januar 2017

Polizei und Staatsschutz leisteten gute Arbeit, doch andere Behörden zogen falsche Konsequenzen im Fall Amri. Fehler, die sich künftig vermeiden lassen, ohne die Sicherheitsarchitektur auf den Kopf stellen zu müssen.

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Deutschland Terroranschlag Berlin  Anis Amri
Bild: picture alliance/dpa/Bundeskriminalamt

Die Suche geht weiter. Die Suche nach möglichen Hintermännern oder Mitwissern des mutmaßlichen Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri. Dass der später bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Mailand ums Leben gekommene Tunesier den Anschlag vom 19. Dezember an der Berliner Gedächtniskirche verübt hat, davon ist die Bundesanwaltschaft inzwischen überzeugt. Eine entsprechende Erklärung gab die Sprecherin der Ermittlungsbehörde, Frauke Köhler, am Mittwoch in Karlsruhe ab. Dabei teilte sie auch mit, dass die Verdachtsmomente gegen einen Landsmann Amris nicht ausgereicht hätten, um im Zusammenhang mit dem Attentat Haftbefehl gegen ihn zu erlassen. Am Dienstag war die Unterkunft dieses 26-Jährigen in einem Berliner Flüchtlingsheim durchsucht worden.

Allerdings erließ die Berliner Generalstaatsanwaltschaft wegen eines anderen Verdachts Haftbefehl gegen den Amri-Bekannten. Er soll mit mindestens zwei Aliasnamen von April bis November 2015 in mehreren Städten zu Unrecht Sozialleistungen für Asylbewerber erhalten haben. Deshalb sei seit Frühjahr 2016 gegen ihn ermittelt worden. Wegen vergleichbarer Delikte war auch Amri schon lange vor seiner tödlichen Lkw-Fahrt ins Visier der Ermittler geraten.

Politik und Medien wetteifern um die Deutungshoheit

Wie bereits länger bekannt ist, wurde er sogar mehrere Monate überwacht. Deshalb wussten die Ermittler im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) auch, dass Amri über einen Anschlag nachdachte. Für einen Haftbefehl soll es trotzdem nicht gereicht haben - mangels konkreter Beweise. Heute weiß man, dass der 24-Jährige eine tickende Zeitbombe war. Sein Potenzial wurde falsch eingeschätzt. Entsprechend ist der öffentliche Tenor: Die Sicherheitsbehörden hätten im Vorfeld des Weihnachtsmarkt-Attentats in Berlin total versagt. Angesichts der vielen Toten und Verletzten liegt diese Vermutung, liegt dieser Vorwurf nahe.

Polizei patroulliert am wieder geöffneten Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz
Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche nach der Wiederöffnung: Mehr Polizei, als es bereits zu spät istBild: Reuters/F. Bensch

Politik und Medien wetteifern - rund zweieinhalb Wochen nach dem Anschlag - um die Deutungshoheit über dieses schreckliche Ereignis. Dabei werden mangels neuer Informationen längst bekannte Einzelheiten wiederholt oder alte Forderungen erneuert. Doch, welche Erkenntnisse sind wirklich neu? Dass Amri Kontakte zu Dschihadisten hatte und im Internet nach Anleitungen zum Bombenbau suchte - darüber wurde schon wenige Tage nach seiner Todesfahrt mit einem Lastwagen berichtet. Warum er trotz dieser Hinweise nicht in Haft genommen werden konnte - auch das ist schon länger bekannt.

Das Anis Amri-Puzzle wurde falsch zusammengesetzt

Das gilt auch für die berechtigte Kritik, dass ihm nach seinem abgelehnten Asylantrag und dem gescheiterten Abschiebungsversuch keine Auflagen erteilt wurden. Es hätte rechtlich die Möglichkeit bestanden, Amris Bewegungsradius einzugrenzen. Eine regelmäßige Meldepflicht bei der Polizei wäre wohl das Mindeste gewesen. Dieses Versäumnis und mögliche weitere Fehler haben aber nichts mit fehlenden Gesetzen zu tun. Es mangelte an deren konsequenten Anwendung. Darin liegt die besondere Tragik.

Thomas de Maizière
Bundesinnenminister de Maizière: Mehr Kompetenzen für den BundBild: picture-alliance/NurPhoto/E. Contini

Die seit Jahresbeginn verschärft geführte Diskussion im politischen Raum geht deshalb an der Lösung des Problems vorbei. Eine weitgehende Zentralisierung der deutschen Sicherheitsarchitektur, wie sie Bundesinnenminister Thomas de Maizière vorschwebt, wäre keine Garantie für eine bessere Gefahrenabwehr. Der Fall Amri zeigt: Die Behörden hatten ein facettenreiches Bild von diesem Mann, den sie zu den 549 sogenannten Gefährdern in Deutschland zählten. Das Puzzle wurde aber einer entscheidenden Stelle falsch zusammengesetzt.

Pressemeldungen der Bundesanwaltschaft sind besorgniserregend

Wie groß die Terrorgefahr auch nach und ohne Amri ist, belegt schon ein kurzer Blick in die Pressemitteilungen der Bundesanwaltschaft in den vergangenen Wochen. So wurde am Tag nach dem Berliner Weihnachtsmarkt-Anschlag der Marokkaner Redouane S. in Niedersachsen festgenommen. Er wird beschuldigt, in mehrere Attentate verwickelt zu sein, darunter die vom 13. November 2015 in Paris. Am 14. Dezember wurde in Berlin erneut der Tunesier Charfeddine T. alias Ashraf Al-T. festgenommen - wegen des Verdachts eines geplanten Terroranschlags im Auftrag des "Islamischen Staats" (IS).

Nach einer ersten vorübergehenden Festnahme Anfang November hatte es noch nicht für einen Haftbefehl gegen den 24-Jährigen gereicht. Sechs Wochen später teilte die Bundesanwaltschaft mit: "Die nachfolgenden Ermittlungen haben den Tatverdacht nunmehr weiter verdichtet." Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, sich in Deutschland "zur Durchführung eines derzeit nicht näher bekannten Auftrags für den IS aufgehalten zu haben". Ashraf Al-T. und Redouane S. sind nur zwei von vielen Terrorverdächtigen, die vielleicht rechtzeitig festgenommen wurden.

Erst zwei Tage nach dem Anschlag wird nach Anis Amri gefahndet

Deutschland Fahndungsfoto Anis Amri
Bild: picture alliance/dpa/Bundeskriminalamt

Auch der Name des Weihnachtsmarkt-Attentäters kam in einer Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft vor: "Das Bundeskriminalamt fahndet im Auftrag des Generalbundesanwalts mit Unterstützung aller Polizeien der Länder und des Bundes wegen dringendem Tatverdacht nach Anis AMRI, 24 Jahre alt, geboren in Tunesien." Diese Nachricht wurde am 21. Dezember verschickt, zwei Tage nachdem er mit einem gestohlenen Lastwagen in den Berliner Weihnachtsmarkt gerast war und zwölf Menschen getötet hatte. Zwei Wochen später sind die Ermittler so weit, dass sie Amri eindeutig für den Mörder halten.

Hätten sie rechtzeitig genug Beweise in der Hand gehabt, um Haftbefehl wegen Terrorverdachts erlassen zu können, wäre das Attentat wohl zu verhindern gewesen. Dann müsste nun niemand darüber spekulieren, warum Amri trotz seiner vielen anderen Vergehen am Ende unbeobachtet durch Deutschland reisen konnte. Diesen Fehler, so viel scheint nach jetzigem Erkenntnisstand sicher zu sein, haben Andere zu verantworten - jedenfalls nicht die Bundesanwaltschaft.