1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Theater mit Schockwirkung

Andrea Kasiske7. Oktober 2012

Schluss mit dem Festivalzirkus und den in ganz Europa gleichen Produktionen! "Foreign Affairs" heißt das neue Theaterfestival in Berlin, das einen radikalen Perspektivwechsel versucht.

https://p.dw.com/p/16Krw
Frau mit geweißtem Gesicht bei Theaterfestival "Foreign affairs" in Berlin (Foto: Peter Hugo/ B. Bailey) Alle sind von den Berliner Festspielen freigegeben für die Veröffentlichung. zugeliefert von: Andrea Kasiske
Bild: Peter Hugo/ B. Bailey

Da sitzt eine imposante schwarze Frau in traditioneller Tracht auf einem Podest, durch Draht abgetrennt vom Besucher. Sie ist umgeben von Schädeln, einen hält sie in der Hand. Eine Tafel informiert über das in den früheren südwestafrikanischen Konzentrationslagern übliche Prozedere: Die Frauen mussten die enthaupteten Köpfe ihrer Mithäftlinge kochen und danach säubern. Dann wurden die Schädel für Forschungszwecke, die dazu dienten, die Überlegenheit der "Weißen Rasse" zu beweisen, nach Europa geschickt. Es überfällt einen ein Gefühl von Scham angesichts dieser Szene und ihrer schockierenden Erklärung.

Die Szene gehört zu einer begehbaren Installation des Südafrikaners Brett Bailey. In den fast sakral wirkenden Räumen eines alten Wasserspeichers hat der Regisseur eine Art Kreuzweg des Kolonialismus inszeniert - nach Art der Völkerschauen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa Hauptattraktionen von Jahrmärkten waren.

Bailey hat mit seiner Company "Third World Bunfight" immer wieder die postkoloniale Gegenwart in Südafrika und das Verhältnis zwischen Afrika und Europa thematisiert. In "Exhibit B" erinnert er an die makabren Menschenschauen und an die Gräuel der weißen, insbesondere der deutschen Kolonialisten in Südwestafrika, dem heutigen Namibia und den Kongo-Staaten.

Diese Blicke vergisst man nicht

Die lebenden Tableaus, mit Performern aus Namibia und afrikanischen Schauspielern aus Berlin, gehen unter die Haut. Besonders da, wo die historischen Requisiten wegfallen, wo als "Asylbewerber" bezeichnete Schwarze den Besuchern "ganz normal" gegenüberstehen und sie ansehen. Nur wenige trauen sich, dem direkten Blick ihrer Augen, die einen verfolgen, standzuhalten. Eine Umkehrung des voyeuristischen Blicks, der hier gnadenlos zurückgeworfen wird an den meist "weißen" Betrachter.

Schwarze Darstellerin hinter Draht bei Theaterfestival "Foreign affairs" in Berlin (Foto: Piet Janssens)
Szene aus der begehbaren Installation "Exhibit B"Bild: Piet Janssens

Es gehe genau um diesen "Blick-Wechsel", sagt Frie Leysen, die künstlerische Leiterin des Festivals "Foreign Affairs". Wie eng die westliche Wahrnehmung der Welt sei, hat sie bei ihrer Theaterarbeit in den arabischen Ländern erfahren. "Unsere Sichtweise genügt nicht", davon ist sie überzeugt. Und so beschäftigen sich gleich mehrere Produktionen, eine deutsche, eine skandinavische und zwei außereuropäische mit dem Thema Kolonialismus und Afrika.

Dass dieses Festival wirklich international ist, dafür hat Frie Leysen gesorgt. Künstler aus 15 Ländern und vier Kontinenten hat die engagierte Kuratorin eingeladen. Einige große Namen, wie die belgische Tanztruppe von Anne Teresa de Keersmaker, aber auch viele hierzulande Unbekannte, aus den Bereichen Tanz und Theater, aber auch Kunst, Musik und Architektur. "Ich will kein Konsensfestival. Es geht nicht um schön oder nicht schön", sagt Frie Leysen mit Nachdruck.

Mobile Häuser zum Nulltarif

Mit "schön" haben die improvisierten Häuser des japanischen Architekten Kyohei Sakaguchi nichts zu tun. Es sind mobile Unterkünfte auf Rädern, jederzeit verschiebbar, so wie Sakaguchi es bei Obdachlosen in Tokio gesehen hat. "Zero-Yen-Häuser" nennt er die Wohnkonstruktionen, die kaum etwas kosten, weil sie aus Materialien bestehen, die andere wegwerfen: Bauabfälle, ausgediente Autobatterien, die noch genug Strom erzeugen, um eine Herdplatte oder einen Fernseher zu versorgen. Zwei "Mobile Houses" hat er für das Festival in Berlin entworfen. An dem größeren muss jeder vorbei, der ins Festspielhaus geht.

Strategisch günstig, denn die Fragen, die Sakaguchi stellt, gehen jeden an. Es geht um die Verteilung von Wohnraum, die Nutzung von Ressourcen und Möglichkeiten der Energiegewinnung.

"Mobile House" des japanischen Architekten Kyohei Sakaguchi, gebaut aus Recycling-Material , Ort auf dem Festival "Foreign Affairs" in Berlin (Foto: Andrea Kasiske, DW)
Ein Haus aus Recycling-Material, das zur Bühne wirdBild: DW

"Warum denkt jeder, dass er ohne Geld nicht überleben kann?", fragt Kyohei Sakaguchi provokativ. Seine radikal nachhaltige und preisgünstige Art zu bauen, zeigt, dass es auch anders geht. Konsumkritik und konkrete Vision in Einem. Thesen, über die schon am Eröffnungswochenende reichlich geredet wurde.

Ganz im Sinne von Frie Leysen. Sie will mit dem Festival Reibung erzeugen, Diskussionen anschieben. Dafür hat sie sich auch selbst zur Verfügung gestellt, in den sogenannten "Hausbesuchen". Privatpersonen konnten sie buchen, um die Ideen für das Festival von der Macherin selbst zu hören. 15 Mal ging sie zu ganz unterschiedlichen Menschen, mit und ohne Theater-Erfahrung. Eine großartige Erfahrung sei das gewesen, schwärmt die Festivalleiterin und hofft, dass diese Art von Mund-zu-Mund-Propaganda wirkt.

Immerhin, die Vorstellungen sind fast alle ausverkauft, die Reaktionen bislang kontrovers. Dass erstaunlich viele junge Leute auch zu später Stunde noch interessiert die "artist talks" verfolgen, ist ein gutes Zeichen. Langweilig sind die "Foreign Affairs" jedenfalls nicht.