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Theater zur Finanzkrise?

19. Oktober 2009

"König Lear" ist William Shakespeares düsterste Tragödie. Hier zerfällt alles. In Deutschlands Theatern ist es plötzlich in Mode, Lear aufzuführen: Das Stück passt gut zur Finanzkrise. Ein Zufall?

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Schauspieler Gerd Voss während der Fotoprobe auf der Bühne des Winer Burgtheaters (Foto: picture alliance/dpa)
Lear, König von BritannienBild: picture-alliance/dpa

Der Titel ist zwar bekannt, trotzdem wurde das Stück in den vergangenen Jahren eher selten auf deutschen Bühnen gespielt. Nun gibt es plötzlich wieder viele Lears in den Theatern: innerhalb weniger Wochen hat das Stück in Köln, Bochum, Göttingen und Moers Premiere. Wenig später folgen Wuppertal und Oldenburg. Ist "König Lear" das Stück zur Finanzkrise?

Verlogene Liebesschwüre

In den Bochumer Kammerspielen kennt König Lear kein Gefühl. Im dunklen Anzug eines heutigen Geschäftsmanns verteilt er sein Reich, die Anteile seines Familienunternehmens. Er fordert von seinen Töchtern Liebeslippenbekenntnisse, verlogene Rituale. Dass seine Jüngste, Cordelia, nicht mitmacht, scheint ihn kaum zu treffen. Sie verweigert sich dem System, deshalb wird sie enterbt.

Generation der Grausamen

William Shakespeare, Portrait (1564-1616), (Foto_picture alliance)
Er schuf den KlassikerBild: picture-alliance / imagestate/HIP

Bochums Schauspielintendant Elmar Goerden inszeniert Shakespeares Tragödie ganz aus heutiger Sicht. Vorne ein Bett, hinten ein Konferenzraum, das ist die Bühne von Silvia Merlo und Ulf Stengl. Der Rückzug von der Macht ist die größte Herausforderung für einen alten Drahtzieher wie Lear. Er schafft es nicht, Cordelias Ausfall bringt das Gleichgewicht der Kräfte ins Wanken. Aber vielleicht wäre der Verfall auch so unausweichlich gewesen. Denn die nachfolgende Generation ist geprägt von Gier, Grausamkeit und Gewissenlosigkeit.

Kein Mitleid für König Lear

Der Lear-Schauspieler Klaus Weiss zeigt den König als Herrscher, der an seine Befehlsgewalt so gewöhnt ist, dass er sie als selbstverständlich voraussetzt. Wenn er aber sein Amt nicht mehr bekleidet und ihm niemand mehr gehorcht, steht er hilflos da und kommt mit dieser Situation nicht klar. Die Parallelen zu gestürzten Wirtschaftsbossen sind so eindeutig, dass die Aufführung keine Hinweise auf die Aktualität des Stoffs braucht. Dieser Lear erregt kein Mitleid. Mit seiner gefühlskalten Art hat er die Generation geprägt, die ihn nun demütigt und in den Wahnsinn treibt. "Er ist ja schon im shakespeareschen Original kein guter König", sagt Regisseur Elmar Goerden. "In der Hauptsache geht es um Verteilung von Besitz und Kapital in einer Welt, in der man für eine Gabe seinerseits auch eine entsprechende Leistung erwartet."

Einöde ohne Gott

Intendantin Karin Beier im Portrait (Foto: picture alliance)
Blick für das Wesentliche- Karin Beier inszeniert in Köln Shakespeares MeisterwerkBild: picture-alliance / dpa

Auch Karin Beier hat am Schauspiel Köln den "König Lear" nicht inszeniert, weil er so gut als politischer Zeitkommentar taugt. Ihr geht es um grundlegende Dinge. "Was bleibt vom Menschen übrig, wenn alle Banden zerreißen?" fragt die Kölner Intendantin. "Was bleibt übrig, wenn es keine Familie, keine gesellschaftlichen, keine sozialen, keine staatlichen Banden mehr gibt, wenn sogar die Banden von Körper und Geist einen verlassen? Was ist das Mensch? Diese Frage stellt Lear auf der Heide, wenn er den nackten Tom sieht. Und die Antwort, die Shakespeare gibt, ist eine nihilistische Antwort. Er verschandelt und zertrümmert die Menschen."

Brutale Frauen

Karin Beier hat in Köln alle Rollen mit Frauen besetzt. Zu Shakespeares Zeit spielten ausschließlich Männer. Doch es geht der Regisseurin nicht um eine feministische Revanche. Die sechs Schauspielerinnen treten eine Mauer ein, tun sich Gewalt an, gehen körperlich und seelisch an die Grenzen. Karin Beier erläutert: "Frauen, die etwas über Sadismus, über Grausamkeit, über Brutalität - also dieses Stück ist unendlich brutal - erzählen, sind auf eine ganz andere Weise ein unbekanntes Territorium. Und dadurch habe ich mir erhofft, einen Geist zu schaffen, der im Zentrum von Shakespeare ist, der sehr, sehr verstörend ist."

Harter Stoff auf vielen Bühnen

Die Kölner Lear-Inszenierung verlangt viel von den Zuschauern. Nicht nur wegen der krassen Bilder, auch weil die Frauen Doppelrollen spielen. Auch in Göttingen und Moers, Wuppertal und Oldenburg steht "König Lear" auf dem Spielplan. Harter Stoff ist die Tragödie überall. Wer den "Lear" inszeniert, zeigt eine Welt ohne Hoffnung. "Von zwölfen liegen am Ende neun tot auf der Bühne", erklärt Elmar Goerden. "Das ist ein harter Schnitt, aber wenn man das Stück verfolgt ein vollkommen plausibler, fast logischer. Und nach Trost sucht man in dem Stück wirklich vergebens."

Autor: Stefan Keim
Redaktion: Elena Singer