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Tinnitus

Gudrun Heise9. November 2012

Rattern, Zischen, Klopfen im Ohr und das 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Rund vier Millionen Deutsche leiden mehr oder weniger ausgeprägt unter Tinnitus, einige ihr Leben lang.

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Bild: Fotolia/Andrea Danti

"Klingeln im Ohr" – das ist die Übersetzung von Tinnitus. Menschen, die darunter leiden, können die Symptome oft nur schwer beschreiben, und dabei kann ihnen auch niemand helfen. Sie sind die einzigen, die das Geräusch hören, denn es kommt nicht von außen. "Es ist kein akustisches Geräusch, das man messen kann", erläutert Professor Gerhard Goebel. Er ist unter anderem Vorsitzender der Deutschen Tinnitus-Liga, einer Selbsthilfeorganisation. "Selbst wenn wir den Hörnerv abschneiden, also quasi das Ohr vom Gehirn trennen, bleibt das Geräusch. Das heißt, es ist ein Phantomgeräusch", so Goebel im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Vorübergehend oder dauerhaft?

Wenn ein Tinnitus auftritt, ist die wichtigste Frage: Hört das Geräusch irgendwann wieder von selbst auf, oder wird es zu meinem ständigen Begleiter? Die ersten drei Monate wird der Tinnitus als akut bezeichnet. Das heißt, es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er durch Behandlung der Ursache spontan wieder verschwindet. Jedes Jahr aber wird er bei rund 250.000 Menschen chronisch. Dabei unterscheidet die Wissenschaft zwischen einem sogenannten kompensierten Tinnitus, der nur ab und zu wirklich belästigend ist und von dem etwa drei Millionen Deutsche berichten.

Die Betroffenen kompensieren das Geräusch, sie gleichen es aus. Schlimmer ist da die dekompensierte Form. Die wiederum tritt bei etwa einer Million Patienten auf: ständige Ohrgeräusche, die den Alltag und die Lebensqualität erheblich einschränken und stören. Dennoch gilt Tinnitus – genauso wie Schmerzen – nicht als Krankheit, sondern als Symptom. Aber die Dauertöne können zu vielen anerkannten Erkrankungen führen, zum Beispiel zu Depressionen oder Angsterkrankungen.

Lärm und Stress

Tinnitus entsteht in vielen Fällen durch Dauerlärm oder etwa einen starken Knall. Diese beiden Gründe treffen bei 30 Prozent der Tinnitus-Fälle zu. Nach Angaben der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL) kommt danach Stress als Ursache infrage. Darauf führt auch Kurt Helmbold seine Beschwerden zurück. Er habe als Verkaufsleiter gearbeitet, erzählt er, und das sei anstrengend gewesen, stressig eben. Seit 1996 hat er ein permanentes Summen im Ohr.

Frau hält sich die Ohren zu (Schwarz-weiß-Photo) http://www.hoerstadt.at/presse/medieninformationen.html
Dauerlärm ist oft die Ursache für einen TinnitusBild: Linz09

"Am besten kann man es so beschreiben: Wenn Sie sich im Sommer, bei großer Hitze unter einer Hochspannungsleitung aufhalten, dann hören Sie ein ganz helles Pfeifen." Die Geräusche Außenstehenden exakt zu beschreiben, ist schwierig. Mit anderen Betroffenen darüber zu reden, ist da schon einfacher. Seit 1998 leitet Kurt Helmbold eine Selbsthilfegruppe im niedersächsischen Bad Laer: Sich auszutauschen, das hilft. Und auch die Frau des heute 73-Jährigen versteht sehr gut, worum es geht. Sie leidet selbst unter einem Tinnitus.

Tinnitus ist im Gehirn, nicht im Gehör

Das Hörsystem ist ein kompliziertes Geflecht und reagiert auf vielerlei Störungen äußerst sensibel. So kann das Hörvermögen bei Verletzungen stark leiden, es kann zu einer Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen führen oder aber zu einem Tinnitus. Und eine permanente Lärmbelastung hat häufig zur Folge, dass die Haarzellen der Hörschnecke geschädigt werden. Die sind beim gesunden Ohr dazu da, die Geräusche zu dämpfen. Ist das Innenohr geschädigt, werden möglicherweise fehlerhafte Impulse an das Gehirn geleitet. "Der letzte Stand der Forschung ist, dass sich im Gehirn Fehlschaltungen aufgeschaukelt haben, und diese Fehlschaltungen führen dazu, dass das Ohrgeräusch durch Stress oder durch einen Ohrenschaden verschlimmert wird und vom Hirn ein- oder ausgeschaltet wird."

Viele Erkrankungen im Hörsystem, die zu einem Tinnitus führen können, sind mittlerweile bekannt. Auch Schwerhörigkeit kann ein Grund sein. Denn dann sind Umgebungsgeräusche eben schlechter zu verstehen und der Tinnitus rückt in den Vordergrund. Da ist manchmal ein Hörgerät die Lösung, denn damit wird die akustische Wahrnehmung verbessert. Mehr natürliche Geräusche von außen kommen ins Gehirn, quasi als Konkurrenz zum Pfeifen, Rauschen oder Summen. So könne man dem Gehirn auch abgewöhnen, sich auf den Tinnitus zu konzentrieren. Und das, so Goebel sei eine Therapie, um das Geräusch wegzubekommen.

Spurensuche nach einem Auslöser

Muskelverspannungen im Nacken oder der Kiefer-Kaumuskulatur oder eine Verletzung der Wirbelsäule können genauso Ohrgeräusche hervorrufen wie direkte Schädigungen des Hörsystems. Entsprechend beschäftigen sich verschiedene medizinische Fachrichtungen damit: Hals-Nasen-Ohrenärzte genauso wie Orthopäden und Physiotherapeuten. Und wenn der Tinnitus stressbedingt ist, kommen auch Psychotherapeuten hinzu. "Die andere Disziplin sind vielleicht noch speziell ausgebildete Zahnärzte, die zusammen mit dem Patienten herausfinden, ob der Tinnitus durch Fehlstellung der Kiefer-Kaumuskulatur zusätzlich verstärkt wird." Alles scheint möglich.

Untersuchung des Ohrs in einer HNO-Praxis. HNO-Arzt © Alexander Raths #44264335 - Fotolia.com
Verletzungen des Innenohrs können Tinnitus verschlimmernBild: Fotolia/Alexander Raths

Vom Presslufthammer bis zur Waschmaschine

"Sie haben ein bestimmtes Geräusch, das haben Sie 24 Stunden am Tag und Sie können es nicht abstellen, können nicht ausweichen", so Kurt Helmbold. "Es gibt Leute, die sagen: 'Ich habe eine Bohrmaschine im Kopf' oder eine Waschmaschine. Alle Geräusche, die es irgendwo gibt, die gibt es auch als Tinnitus." In den meisten Fällen aber sind es Hochfrequenztöne, die sich da im Ohr einnisten. Der Pensionär Helmbold hat sich mit seinem Summen im Ohr arrangiert. Wenn es beim Einschlafen zu penetrant werde, schalte er einfach leise Hintergrundmusik ein. Denn besonders schlimm ist absolute Stille, wenn es keine anderen Quellen außerhalb des Ohrs gibt, die von dem Pfeifen oder Rauschen im Kopf ablenken können.

"Das ist wie ein Teelicht auf Ihrem Tisch in einem stockdunklen Raum", erläutert Goebel. Da kann man das Teelicht überhaupt nicht übersehen. Und so ist das auch mit dem Tinnitus in der Stille. Und wenn ich dann das Fenster aufmache oder das Licht anschalte, dann verbrenne ich mich vielleicht, weil ich das Teelicht gar nicht sehe, denn dann ist Umgebung heller."

Straßenbauarbeiter reparieren Schlaglöcher in der Berliner Innenstadt. Foto: Kay Nietfeld dpa/lbn
Sogar das Geräusch eines Presslufthammers kann als Tinnitus auftretenBild: picture-alliance/dpa

Wenn ein Phantom das Leben verändert

Tinnitus sei ein weltweites Problem, erklärt Gerhard Goebel und verweist auf die Internetseite www.eutinnitus.com. Dahinter steckt die European Federation of Tinnitus Associations, EUTi. Sechzehn verschiedene Flaggen sind auf der Startseite aufgeführt. Klickt man eine davon an, geht ein Fenster auf und man kann sich in der jeweiligen Landessprache über Tinnitus und Selbsthilfegruppen informieren, von Finnland bis in die Türkei, von Italien bis Polen.

Gerade für junge Leute ist die Erkenntnis: 'Ich habe einen Tinnitus' oft ein dramatischer Einschnitt ins Leben und verbunden mit Unsicherheit und großen Ängsten, weiß Kurt Helmbold: "Und wenn diese jungen Leute dann kommen und sagen: 'Also, wenn das so ist, dann springe ich von der nächsten Brücke', dann wissen Sie auch, welch ein Leidensdruck das ist."