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Tocotronic - seit zehn Jahren der Zeit voraus

Mirja Annawald 1. Mai 2006

Noch immer sind Tocotronic Vorbild für viele deutsche Bands. Bekannt wurden sie mit ihrer eigenwilligen Musik aber auch über deutsche Grenzen hinaus. DW-WORLD.DE sprach mit dem Sänger Dirk von Lowtzow über ihren Wandel.

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Tocotronic-Sänger Dirk von Lotzow, aufgenommen am 25. April 2005 in HamburgBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Hamburg, 1993: Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug), beide von den Hamburger Punkbands Punkarsch und Meine Eltern, gründen Tocotronic. Der Name geht auf einen Gameboy-Vorläufer zurück. Bald gesellt sich das dritte Mitglied hinzu: Dirk von Lowtzow (Gitarre und Gesang), zum Studium von Freiburg nach Hamburg gezogen.

Ein paar Songs und wenige Auftritte genügen, um die Band in der Hamburger Musikszene allmählich bekannter zu machen. Insbesondere der damals ungewöhnliche Kleidungsstil der drei Musiker blieb vielen Konzertbesuchern im Gedächtnis: Schnell wurde der enge-Werbe-T-Shirts-Trainingsjacken-Cordschlaghosen-Look von vielen Leuten nachgeahmt. So auch die eigenartigen hinten-kurz-vorne-lang-Frisuren der Drei. "Das war ja damals noch kein gültiges Studentenoutfit. Es gab auch keine Läden, wo man die Sachen kaufen konnte. Wir hatten diese Klamotten aus der Altkleidersammlung, oder vom Flohmarkt. Wir fanden es halt wahnsinnig witzig, eine Art Uniform für die Band zu entwerfen", erinnert sich Sänger Dirk von Lowtzow.

Wir wollen Rockband sein

Bereits vor der ersten Veröffentlichung existierte ein Fanclub: Megatronic. An der deutschen Spießigkeit verzweifelnde Jugendliche waren auf der Suche nach neuen Idolen fündig geworden. Viele von ihnen sind der Band bis heute treu geblieben.

Tocotronic Presse Album Pure vernunft darf niemals siegen
Seit 2005 hat die Band vier MitgliederBild: presse

1994 produzierten die drei Jungmusiker auf dem Eigenlabel Rock-o-Tronic die erste EP mit vier Schrammel-Rock-Songs, aufgenommen mit einem simplen Kassettenrekorder in ihrem Hamburger Proberaum. Doch niemanden störte die schlechte Tonqualität, und dass man den Gesang kaum verstehen konnte: Die EP war bald vergriffen. "Wir waren damals sehr interessiert an dem Konzept Rockband. Das fanden wir immer interessanter, als etwa die Qualität der Aufnahmen,“ erinnert sich von Lowtzow.

Während die Fans in ganz Hamburg die Songtitel parolenartig auf Hauswände sprühten, und in Schulbänke ritzten, wurden Tocotronic vom Label L´Age D´Or in die so genannte Hamburger Schule aufgenommen, zu der auch deutschsprachige Bands wie Kolossale Jugend, Fünf Freunde, oder Huah! gehörten. Dabei waren unter anderem auch Blumfeld, mit denen Tocotronic bald einige Konzerte spielten.

Slogans und Wut

1995 erschien das Debütalbum, “Digital ist besser”, das die großen Erwartungen keineswegs enttäuschte, und heute zu den wichtigsten Pop-Musik-Alben gezählt wird. Die Songtitel in Slogan-Form ("Samstag ist Selbstmord", "So jung kommen wir nicht mehr zusammen", "Gitarrenhändler, ihr seid Schweine") waren bald fest in den Köpfen diverser Liebhaber schräddeliger Rockmusik verankert.

Mit Tocotronic würde sich endlich eine neue Generation deutscher Pop-Bands ankündigen, prophezeite die deutsche Musikpresse. Vor allem aber konnten sich viele der deutschen Jugendlichen mit den Textinhalten identifizieren, in denen die Band ihrer Wut über die deutsche Spießigkeit Luft machte, sich aber gleichzeitig in einem Gefühl der Melancholie verlieren konnte.

1996 erschien, nach einem Mini-Album im Jahr 1995 ("Nach der verlorenen Zeit"), das dritte Album mit dem Titel „Wir kommen, um uns zu beschweren“. Im selben Jahr lehnte die Band den Musikpreis Comet ab, der ihnen vom Pop-Musik-Kanal Viva, in der Kategorie "jung, deutsch, und auf dem Weg nach oben" verliehen werden sollte. Anscheinen stand die Kategorie in engem Zusammenhang mit der damaligen Diskussion um eine Radioquote für deutschsprachige Musik. Von Lowtzow erläutert die Zurückweisung des Preises: "Es gab damals schon so eine Stimmung, deutsche Rockmusik zu nationalisieren. Durch die Ablehnung wollten wir darauf aufmerksam machen, dass wir nicht daran interessiert sind, unter diesen Begriffen ausgezeichnet zu werden.“

Das Leiden der Avantgarde

Nach dem 1997er-Album "Es ist egal, aber" fasste die Band den Entschluss, etwas Neues, Anderes zu machen, um sich musikalisch weiterzuentwickeln. Erste Auswirkungen dieses Planes wurden bei "K.O.O.K.“"von 1999 offenkundig. Um sich ganz besonders auf die Produktion des Albums konzentrieren zu können, zogen sich die drei Musiker, gemeinsam mit dem Produzenten Carol von Rautenkranz und dem Produktionsteam, nach Frankreich zurück. Dort ließen sich die drei Tocos schaurige Rauschebärte wachsen, die allerdings bald wieder verschwunden waren, und feilten bis zum Äußersten am Sound des Albums.

Schließlich war von den schrammeligen Tönen der ersten Alben nicht mehr viel übrig geblieben. Viele zusätzliche Instrumente wurden integriert, eingespielt von professionellen Orchestermusikern. Dirk von Lowtzow spricht von einem Sich-selber Verwirren und Sich-Verlieren-in-immer-größeren-Aufwand, was mit dem nachfolgenden Album "Tocotronic" von 2002 vollends auf die Spitze getrieben wurde. Das war dann irgendwann nicht mehr zu toppen, meint von Lowtzow, vor allem die Produktionszeit von etwa anderthalb Jahren. So wurde das letzte Album, "Pure Vernunft darf niemals siegen", live und ohne Kopfhörer, in etwa zehn Tagen in einem Keller in Berlin-Kreuzberg aufgenommen.

Veränderungen

Inhaltlich geht es heute in den Texten von Tocotronic immer weniger um alltägliche Dinge, als um fantastische Welten. Doch manche Hörer vermissen den "Alltagsstil von früher", und empfinden die neuen Texte, und auch die Musik, bei Songs wie "Führe mich sanft" als sehr düster. "Am Anfang war es so, dass uns diese Alltagsbeschreibungen viel mehr interessiert haben. Wir hatten damals das Gefühl, dass es einfach noch nicht so viele Leute gab, die so etwas gemacht haben," erinnert sich Dirk. Dieser Schreib-Stil wurde dann aber bald von vielen Leuten aufgegriffen und kopiert - nicht nur in der Musik, auch in der Literatur und der Werbung.

"Es gab dann solche Erscheinungen wie Popliteratur. Oder dieses kolumnenhafte, wo plötzlich jeder Vollidiot darüber schreibt, wie es ist, wenn er im Supermarkt an der Kasse steht, und seine Cola kauft. Darunter wollten wir nicht subsumiert werden", erzählt Dirk. "So haben wir uns ab einem bestimmten Zeitpunkt eben für andere Dinge interessiert, die eher außerhalb dieser Alltagswelt liegen."

Da auch der Kleidungsstil überall nachgeahmt wurde, und auch von der Werbeindustrie adaptiert wurde, tauschte die Band die Trainingsjacken und bunten T-Shirts Ende der 1990er gegen schlichte, schwarze Hemden und Hosen aus.

Gute Aussichten

Dirk von Lowtzow kritisiert die angebliche Nahbarkeit, die viele Bands ihren Fans seiner Meinung nach vorgaukeln: "Dieses so tun, als wäre man mit jedem Einzelnen so wahnsinnig gut befreundet, und würde nach der Show noch ein Bier trinken gehen. Das finde ich, ehrlich gesagt, ein bisschen verlogen.”

Anfang 2006 wurde die Doppel-CD “The Best of Tocotronic” veröffentlicht. Auf der ersten CD befinden sich insgesamt 22 der schönsten Stücke der vergangenen zehn Jahre. Die zweite CD beinhaltet neben den Songs der 1994er EP, einige Live-Aufnahmen verschiedener Konzerte von Tocotronic.

Bedeutet nun das Erscheinen der Best Of-CD, dass die Band mit dem Gedanken spielen, aufzuhören? "Das ist eine Interpretation, die uns völlig fremd lag, da wir gerade dabei sind, wieder neue Stücke zu schreiben, und es ein neues Album geben wird. Es gibt überhaupt keine Überlegungen, auch nur ansatzweise, Tocotronic zu begraben".