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Tonsatz nach Parteibuch

Ingun Arnold5. März 2004

Prokofjew, Schostakowitsch – schon gehört? Wenn nicht, ist das nicht schlimm. Sowjetische Musik ist nicht sonderlich populär in Westeuropa. Warum eigentlich?

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Komponieren in der Sowjetunion: Verbiegen im Takt der ParteiBild: dpa


"Hunderttausende komponierten im Gleichklang, egal, ob sie hochbegabt oder Dilettanten waren." Marina Frolova-Walker, Musikwissenschaftlerin an der Universität Cambridge, kennt die Mechanismen, nach denen in der Sowjetunion Musik "geschaffen" wurde.

"Die Kunst hatte dem System zu dienen – nicht umgekehrt. Die Komponisten waren Angestellte des Staates", erklärte sie den Teilnehmern des Symposions "Musik in Diktaturen", das Ende Februar 2004 in Wuppertal stattfand. Selbstverwirklichung und Individualität kamen in diesem staatlichen Lenkungs-Konzept nicht vor. Stattdessen bestimmten kollektiv verordnete Normen den Produktionsprozess.

Wer alles ein Wörtchen mitzureden hatte

Parteibonzen – und nicht etwa die Gunst des Publikums – entschieden über Wohl und Wehe von Komponisten und ihren Werken: Das Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei, das Kulturministerium, der Komponistenverband und der KGB zogen die Fäden bei Produktion, Vertrieb und Aufführung von Musik: Eine Komposition wurde als erstes von vermeintlichen oder echten Sachverständigen des Ministeriums bewertet. Danach erhielt das ZK das Gutachten zur Genehmigung. Bei positivem Bescheid kaufte das Ministerium das Werk und bestimmte über Art, Besetzung und Datum der Uraufführung. Der Geheimdienst überwachte den gesamten "Produktionsprozess".

Abendstimmung mit Hammer und Sichel
Hammer und Sichel - Symbole der SowjetmachtBild: transit-Archiv

Erzwungene Loyalität

Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch, zwei Giganten der Sowjetmusik des 20. Jahrhunderts, wurden noch 1948 von Stalin an den öffentlichen Pranger gestellt. "Nicht volkstümlich genug", so der Vorwurf gegen ihre Musik. Was hieß: Stalin fühlte sich persönlich beleidigt. Das war nicht ungefährlich für das Leben der Abgestraften. "Papa, können die dich dafür an den Galgen bringen", soll Maxim Schostakowitsch seinen Vater bei einer Probe zu dessen 11. Sinfonie gefragt haben.

Junge Philharmonie, Orchester mit Leitung Volker Hartung
Bild: Volker Hartung

Wen die Partei als nicht linientreu identifizierte, der wurde gnadenlos boykottiert, gedemütigt und mit Aufführungsverbot belegt. Schostakowitsch hatte sich nicht nur einmal erlaubt, keine linientreue Komposition abzuliefern. So eine Karriere endete schlimmstenfalls im Gulag. "Aber niemand von uns wollte ins Gulag", brachte der russische Komponist Rodion Shchedrin die Stimmung unter den Kulturschaffenden einst auf den Punkt.

Gewusst wie

Sich selbst verleugnen, Zugeständnisse machen an die Parteinormen, eine private und eine öffentliche Meinung haben – das sind überlebenswichtige Techniken in einer Diktatur. Auch die Komponisten sahen sich vielfach gezwungen, sich dem zu beugen. Aber kann man ihnen daraus einen Vorwurf machen? "Indem ein Komponist ideologisch konforme Werke zusammenschrieb, konnte er sich Freiraum schaffen für Non-Konformes", erklärt Musikwissenschaftler Oliver Kautny das Dilemma. Auch Prokofjew und Schostakowitsch blieb nichts anderes übrig, als sich nach außen hin systemkonform zu geben. Dafür wurden sie dann auch mit dem Stalinpreis "belohnt". Prokofjew bezahlte obendrein mit seiner Gesundheit: Einen so individuellen, starken Charakter wie ihn kleinzukriegen, war für die Parteiobersten ein hartes Stück Arbeit. Bittere Ironie der Geschichte: Der Komponist starb am gleichen Tag wie Stalin, am 5. März 1953.

Ohren zu und durch

Was auf der Strecke blieb, waren Kreativität, Individualismus und – Qualität. "Wenn irgendein runder Geburtstag von Puschkin zu feiern war, dann schrieben alle Puschkin-Kantaten. Zur 800-Jahr-Feier von Moskau gab es massenhaft Moskau-Kantaten", erzählt Marina Frolova-Walker. "Der Anlass war völlig gleichgültig, da die Musik sowieso nur als Schmierstoff im Getriebe des Gesellschaftssystems gebraucht wurde." Vor keine großen Herausforderungen gestellt, taten die Komponisten ohne viel Phantasie den Parteivorgaben Genüge.

Traumfabrik Kommunismus - Gerassimow Portrait Stalin 1939
Josef Stalin

Manche Kantate wurde nur ein einziges Mal aufgeführt und verschwand dann auf Nimmerwiedersehen in den Schubladen der Musikgeschichte. "Der Komponist ist ein devoter Diener des Systems, der im Dienst an der Partei sich selbst verleugnet", kommentiert Frolova-Walker sarkastisch. "Fortschritt ist, wenn die Vorgaben der Partei erfüllt werden. Das Musikalische ist Nebensache." Die Intelligenzia des Landes langweilte sich - und resignierte.