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Trösten und staunen

29. April 2016

Meine Kollegin und ich kommen zu vielen Patienten ins Zimmer. Wir begleiten die Menschen oft in schwierigen Situationen und werden doch immer wieder Zeuginnen von erstaunlichen Wendungen mitten in Leid und Schmerz.

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Bild: picture-alliance/epa/F. Sivi

„Geh aus, mein Herz“ – mitten im Winter

Seit 9 Jahren bin ich Seelsorgerin in einem großen Krankenhaus. 850 Betten, in jedem ein Mensch mit einer ganz eigenen Geschichte, oft an einem Wendepunkt im Leben.

Eine alte Dame, 80 Jahre alt, hatte sich eine neue Hüfte einsetzen lassen, weil die Schmerzen unerträglich geworden waren. Aber etwas heilte nicht im Körper. Sie hatte schon vier Wochen im Krankenhaus gelegen, als ihre Kinder mich anriefen und mich baten zu ihr zu gehen. Zuerst war sie noch sehr klar. Sie konnte mir von ihrem Dorf erzählen und von ihrer ursprünglichen Heimat im jetzigen Polen. Sie sprach auch über ihre Angst. Wir unterhielten uns über den Glauben, der ihr wichtig, aber nicht so wichtig gewesen war. Darüber machte sie sich jetzt Gedanken. Es war, als begäbe sie sich neu auf die Suche nach Gott. Dann wurde sie noch einmal operiert. Danach war sie sehr verwirrt und unruhig. Ich saß in dieser Zeit oft ganz still am Bett, manchmal betete ich mit ihr den Psalm 23. Anfangs sprach sie die Worte mit, dann aber wurde das Sprechen immer weniger. Manchmal sang ich Lieder für sie, manchmal erinnerte ich sie daran, was sie mir von ihrer Heimat erzählt hatte. Eines Tages deutete eine Krankenschwester an, dass die alte Dame demnächst zur Kur verlegt werden sollte. Ich war erstaunt – würde sie jetzt die Krankheit überstehen, zu Kräften kommen und wieder beweglich werden? Doch am Tag darauf war die Familie um sie versammelt, als ich ihr Zimmer betrat. Man hatte sie ins Krankenhaus gerufen, denn die Mutter würde vielleicht nicht den Abend überleben. So schnell hatte sich alles gewendet.

Fast die ganze Familie war da, ihre Kinder und ihre Enkel. Wir überlegten und fragten sie, ob wir zur Stärkung zusammen das Abendmahl feiern sollten. Dem stimmte die alte Dame still nickend zu. Es war sehr berührend. Sie bewegte zu manchen Worten die Lippen. Wir sangen ihr Lieblingslied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud “ – mitten im Winter. Sie starb am nächsten Morgen, ihr Sohn und ihre Schwiegertochter waren bis zuletzt bei ihr. Auch bei ihrer Beerdigung wurde dann das Lied „Geh aus mein Herz“ gesungen.

Umgeben von einem guten Team

Meine Kollegin und ich, beide mit einer halben Stelle im Klinikum tätig, kommen zu vielen Patienten ins Zimmer, besonders zu denen, die immer wieder hier sein müssen - zu Untersuchungen, Operationen, Bestrahlungen, Therapien. Wir begleiten die Menschen oft in schwierigen und belastenden Situationen und werden doch immer wieder Zeuginnen von erstaunlichen Wendungen mitten in Leid und Schmerz. Und wir erleben kostbare Momente, staunen darüber, wie geduldig und gelassen Menschen sein können, wie viel Zuversicht und nicht zuletzt auch Humor manche aufbringen. Und welche Kraft darin liegt.

Auch da, wo das wahrscheinlich Schwerste geschieht, was ein Mensch erleben kann, wo ein Kind stirbt, werden wir gerufen. So gut wir können begleiten wir dann die Eltern, die ihr Kind verloren haben, bevor es ins Leben kommen konnte. Auch für sie gibt es eine Beerdigung. Ich bin sehr froh, dass ich dann umgeben bin von einem Team couragierter und zugleich einfühlsamer Ärztinnen, Hebammen und Schwestern. Und dass es einen Bestatter gibt, dem es eine Herzensangelegenheit ist, diesen Abschieden einen würdevollen Rahmen zu geben. Für die Eltern ist so eine Trauerfeier zum Abschied immer ein wichtiger Trost. Ihrem Schmerz wird darin Raum gegeben - einem Schmerz, den die meisten Menschen um sie herum nicht ermessen können.

Eine Wendung zum Staunen

Eine junge Frau, die ihr erstes Kind verloren hatte, merkte nun in der neuen Schwangerschaft, dass wieder etwas nicht stimmte. Und leider verlor sie auch dieses Kind. Das Paar war unendlich traurig, aber doch auch gefasst. Die Begleitung und die Beerdigung waren sehr bewegend.

Ich hatte lange Zeit nichts mehr von ihnen gehört, als mich ein Anruf aus der Geburtsklinik erreichte. Die junge Frau war wieder da. Voller Sorge fragte ich nach und erfuhr, dass sie ein kleines Mädchen bekommen hatte, ganz zart und quietschmunter. Ich sollte kommen und die Kleine segnen. Das tat ich natürlich von Herzen gerne. Die Eltern waren so glücklich, und sie sind es bis heute. Immer mal wieder bekomme ich eine Nachricht, wie die Kleine gedeiht und langsam groß wird. Und auch, wie selbstverständlich sie sich bewegt an den Gräbern ihrer beiden Geschwister. Die sind natürlich nicht vergessen. Sie gehören dazu.

Anne Linden arbeitet als Krankenhausseelsorgerin im Klinikum Frankfurt / Oder und erzählt für die evangelische Kirche, wie sie dort schwierigen Situationen begegnet - und wie sie manchmal erstaunliche Wendungen miterlebt.