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Altdeutsches Flair

26. Mai 2009

Früher reiste der russische Adel zu Kur und Kasino nach Baden-Baden. Heute wird die süddeutsche Idylle direkt vor die Tore Moskaus gebaut.

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Grafik Fernschreiber
Bild: DW

"Emigrieren Sie jeden Abend", fordert eine ganzseitige Anzeige in der führenden russischen Wirtschaftszeitung "Wedomosti" die betuchten Leser auf. Zwar hat die Wirtschaftskrise auch Russlands Reiche schwer getroffen. Trotzdem: Wer sich Luxus-Häuser im Moskauer Umland leisten kann, liebt es derzeit europäisch-kitschig. Im vergangenen Boom wurden ganze Siedlungen aus dem Boden gestampft und mit so wohlklingenden Namen wie "Moskauer Venedig" oder "Villa Italia" an den Mann gebracht. Und immerhin fallen jetzt krisenbedingt die Preise.

Bankkonto ersetzt Reisepass

Eine Wiese, zwei Flüsse und ein kleines Wäldchen - darum ein schmiedeeiserner Zaun mit zwei geschwungenen Bs als Emblem. Auch hier ist bald Deutschland. Denn mitten auf der Wiese schafft ein Bagger ein zweites Baden-Baden in den russischen Weiten. Deutsches Dorfleben völlig visumsfrei. Das dicke Bankkonto ersetzt den Reisepass.

Wer würde in Deutschland schon zwei bis sechs Millionen Dollar für ein Haus zahlen, um im öden Moskauer Umland zu wohnen. In Russland heißt das dann "Premium-Klass" - schöner Wohnen für all diejenigen, denen ihre teure Moskauer Stadtwohnung zu langweilig geworden ist.

39 Häuser mit einem Hauch von Fachwerk, ein herrschaftlicher Park und der Zaun mit den zwei schmiedeeisernen Bs als Schutz vor der Außenwelt. Selbst die Namen der Häuser versprühen das Flair der deutschen Romantik: Lerchensand, Lichtental, Bergengrün, Rothenbach und Weinberg.

400 Kunstdörfer entstanden

Europa ist in. Während Regierungschef Putin am russischen Sonderweg bastelt und anti-westliche Stimmung in der Bevölkerung schürt, zieht es den Teil von Russlands Elite, der es sich auch in Krisenzeiten noch leisten kann, verstärkt ins pseudo-europäische Moskauer Umland. Und das am liebsten unbehelligt von den sozialen Problemen des armen russischen Dorflebens.

400 Kunstdörfer sind um die russische Hauptstadt entstanden. Finnland, Italien, Frankreich, England - fast jedes Land hat seine Premium-Kopie à la Disneyland abbekommen. In Russland liebt man kitschiges Ethno-Flair. Und in Sachen Einfamilienhäuser hat die sowjetische Plattenbauarchitektur im vergangenen Jahrhundert ohnehin keine eigenen Akzente gesetzt.

Zu Besuch in Belgien

Eine Schranke versperrt die Einfahrt nach Belgien. Dahinter warten ein riesiger künstlicher See, eine Windmühle und 89 großzügige Landsitze für diejenigen, die zum Überqueren dieser innerrussischen Grenze befugt sind. Denn auch die belgische Siedlung ist selbstverständlich eine "Gated Community" - niemand hier will wegen seines Geldes schief angeguckt werden. Man bleibt unter sich.

Langsam gleitet der Wagen an den verklinkerten Häusern vorbei. Irgendwo hat man das alles schon mal gesehen - vielleicht in Belgien, sicher aber in einer deutschen Neubausiedlung aus den 1990er-Jahren. Nur ist hier alles viel größer. Jeder, der hier wohnt, erinnert sich schließlich noch mit Grausen an den Wohnungsmangel zu Sowjetzeiten.

Der Höhepunkt der Dorfrundfahrt ist der künstliche See. Das andere Ende am Waldrand ist von hier kaum zu sehen. Die riesige Pfütze ist das Kaufargument für Menschen, die sich fast alles leisten können.

Autor: Erik Albrecht

Redaktion: Kay-Alexander Scholz