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Tschechen sind gerne "krank"

12. Februar 2003
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Prag, 11.2.2003, RADIO PRAG, deutsch, Jitka Mladkova

Es gibt nicht viele Bereiche, in denen die Tschechen zur Weltspitze gehören. Auf dem Gebiet "Arztbesuche" aber gelten sie eindeutig als wahre Spitzenreiter, wie dies u.a. auch die Statistiken der OECD mit Zahlen belegen. In deren Tabellen teilen sich die Tschechen mit 15 Arztbesuchen pro Jahr den zweiten Platz mit den Ungarn, besser sind nur noch die Japaner. Die Tschechen suchen zweieinhalb bis dreimal öfter einen Arzt auf, als es dem europäischen Durchschnitt entspricht. Auch die einheimischen Statistiken beinhalten diesbezüglich keinerlei erfreuliche Zahlen. Die durchschnittliche krankheitsbedingte Fehlzeit nähert sich hierzulande einem Durchschnittswert von 30 Tagen jährlich, Tendenz steigend. Sind wir denn ein außergewöhnlich kränkliches Volk, muss man sich schon fragen, wenn man weiß, dass nur 20 Prozent der Männer und acht Prozent der Frauen sich vollkommen gesund fühlen (wollen)? Die Gründe, warum die Arztpraxen einen so hohen Zulauf verzeichnen, bringt der ehemalige Vize-Gesundheitsminister und Sektionsdirektor der größten tschechischen Krankenkasse "VZP", Antonin Pecenka, auf die folgende Formel:

"Die Hauptursache sehe ich darin, dass das System der Entgeltfortzahlung im Krankenstand sehr tolerant ist, sogar dermaßen tolerant, dass es sich anbietet, missbraucht zu werden. So lange es sich lohnt, krank geschrieben zu sein, wird sich nicht viel daran ändern".

Doch was Pecenka sagt, gilt nicht restlos für alle, obwohl schon der Militärarzt Bautze im Schwejk-Roman von Jaroslav Hasek behauptete, das ganze tschechische Volk sei eine Simulantenbande. Denn jeder krankgeschriebene Tscheche erhält in den ersten drei Tagen nur fünfzig Prozent seines pro Tag berechneten Entgelts. Danach sind es 69 Prozent, wobei auch hier die Lohnsumme pro Tag nach oben gedeckelt ist. Die höchsten Krankenstände werden deshalb traditionsgemäß bei Mitarbeitern verzeichnet, deren Monatsentgelt maximal dem Durchschnittslohn entspricht. Bis zu dieser Lohngrenze gilt es nämlich nicht als schmerzlich, auf das abgezogene Geld verzichten zu müssen. Die Besserverdienenden hingegen nehmen lieber in der Regel Urlaub, wenn sie krank sind. Antonin Pecenka sieht aber noch einen Grund, warum so viele Tschechen häufig den Gang zum Arzt antreten: Ihre Beziehung zum Arzt bezeichnet er als unterwürfig:

"Die Beziehung zwischen dem Menschen, der zum Patienten wird - also zum Geduldigen, wie dieses Wort in der Übersetzung heißt, und dem Arzt ist prinzipiell nicht ausgeglichen, doch hierzulande gilt dies noch mehr als anderswo. Unser Patient ist es nicht gewöhnt, die Verantwortung für seine Gesundheit zu übernehmen. Statt eine banale Erkrankung wie z.B. eine Erkältung mit Kräutertee und Bettruhe zu bewältigen, geht er lieber zum Arzt, der für ihn alles entscheiden soll."

Dies sei, meint Pecenka ironisch, eine aus den alten Zeiten des kommunistischen Regimes herrührende Gepflogenheit, als es hieß, die Gesundheitsfürsorge sei kostenlos. Diese Philosophie nämlich machte einem damals die Entscheidung leicht, sich krankschreiben zu lassen, um mal die Wohnung zu streichen und mal das Dach oder was auch immer zu reparieren. Und die Gesellschaft hat es akzeptiert. Mittlerweile ist dies jedoch für viele Fachexperten und Politiker zu einem Anlass geworden, sich über Mittel und Wege für eine effiziente Reform des Sozialsystems den Kopf zu zerbrechen. (fp)