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Tschechien: Wenn es an Wahlkampfthemen mangelt

15. März 2002

– Die Benes-Dekrete werden in der Zeit vor den Wahlen gefährlich instrumentalisiert

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Prag, 7.3.2001, PRAGER ZEITUNG, Uwe Müller

Wenn nichts mehr hilft, wenn die sachlichen Argumente fehlen, wenn es an schlüssigen Projekten, klaren Zielstellungen und programmatischen Aussagen mangelt, dann greifen Politiker zu Altbewährtem. Insbesondere dann, wenn Wahlen vor den Türen stehen. Genau das tun momentan die beiden großen Parteien Tschechiens und deren tonangebende Köpfe: Vaclav Klaus in der Bürgerlich-Demokratischen Partei (ODS) und Milos Zeman in der Sozialdemokratie (CSSD). Nahezu zeitgleich zogen beide die scheinbare Trumpfkarte: Die Unantastbarkeit der Benes-Dekrete. Beide streiten nun darum, wer der bessere Hüter nationaler Interessen ist. Und sie begeben sich damit kopfüber auf das Minenfeld internationaler Politik.

Fast schon frivol bedienen sich Politiker beider Parteien längst vergessen geglaubter Befindlichkeiten, nämlich der Angst vor den Sudetendeutschen. Und plötzlich wird offenkundig, dass die Aufarbeitung der eigenen Geschichte in Tschechien eigentlich immer noch in den Anfängen steckt. Denn die aktuelle Diskussion über die Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes, so sehr erwünscht und notwendig, ist jedenfalls gemessen an der Argumentation der Politiker ein Rückfall in die erste Hälfte der neunziger Jahre.

Da will der außenpolitische Sprecher der ODS, Jan Zahradil, eine neue antitschechische Koalition von München, über Wien bis nach Budapest ausgemacht haben. Er und sein Parteichef Klaus werden nicht müde, davor zu warnen, was nach dem EU-Beitritt und nach Ratifizierung der Charta der Grundrechte und -freiheiten geschehen wird, wenn es nicht gelingt, die Dekrete als unantastbar in den Beitrittsvertrag aufzunehmen. Dann würden nach dem Beitritt Tschechiens, so der ODS-Politiker, zahlreiche Individualklagen einstiger Vertriebener vor dem Europäischen Gerichtshof landen. Und dieser müsse die Dekrete aufheben, ein Rechtsvakuum würde sich auftun, die Rechtsgrundlagen des Staates seien dann bedroht, wichtige eigentumsrechtliche Fragen wären auf einmal offen.

Allerdings finden die Politiker nur eingeschränkt Rückendeckung durch die tonangebenden Zeitungen. Deren Kommentare fordern vielmehr, die Hausaufgaben zu machen und endlich zu begreifen, dass die Europäische Union nicht einseitig gleichzusetzen ist mit dem gemeinsamen Markt. Sie ist vielmehr auch eine "Wertegemeinschaft", hob der Politologe Rudolf Kucera hervor. Und in dieser Wertegemeinschaft stehe es außer jedem Zweifel: Die Vertreibung von Menschen aus ihrer angestammten Heimat muss verurteilt werden. Diese Botschaft sei bislang bei keiner der tschechischen Parteien angekommen, meint der Wissenschaftler. Wenn schon die Parteien davon noch nicht Kenntnis genommen haben, was weiß dann erst der Bürger?

Und was hier im tschechischen Kessel an provinziellen Suppen im Wahlkampf eingebrockt wird, müssen schließlich die Bürger auslöffeln. Das sture Beharren auf den Dekreten, der Wetteifer, eifrigster Hüter nationaler Interessen zu sein, werden in Europa mit Unverständnis aufgenommen. Selbst dem Land geneigte Politiker schütteln darüber den Kopf. EU-Beitrittskommissar Günter Verheugen verlangt eine Versachlichung der Diskussion. Bundeskanzler Gerhard Schröder kann und will unter diesen Umständen erst gar nicht nach Prag kommen. Der so wünschenswerte Visegrad-Gipfel wurde abgesagt. Man sollte aufpassen, dass bei innenpolitischen Wahlkampfscharmützeln nicht zu viel diplomatisches Geschirr zerschlagen wird. (ykk)