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Tschechiens neuer Nationalismus

15. April 2002

- Regierende Sozialdemokraten und oppositionelle Konservative machen tschechische nationale Interessen zum Wahlkampfthema

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Prag, 11.4.2002, PRAGER ZEITUNG, deutsch

In Tschechien kennt die Politik momentan kein anderes Thema als die Benes-Dekrete. Es ist Wahlkampf und es geht dieses Mal wohl um jede Stimme. Die Parteien der politischen Mitte werfen ihre Netze deshalb bis weit an den rechten und linken Rand aus.

Das Zentralkomitee der Sozialdemokraten will in einer eigens verabschiedeten Beschlussfassung alle Mitglieder der Partei "zur Verteidigung der nationalen Interessen" verpflichten. "Die Tschechische Republik darf nicht zu einer Schwachstelle in der Nachkriegsordnung Europas werden", warnte Parteichef Vladimir Spidla Ende vergangene Woche seine Genossen. Am Wochenende (6.7.4.) dann zog er mit einigen hundert Parteifreunden auf den mittelböhmischen Berg Rip.

Im tschechischen historischen Bewusstsein ist das allerdings kein herkömmlicher Berg, sondern die Anhöhe, von der aus vor Hunderten Jahren Urvater Tschech seinem Volk der Sage nach verkündete: "Hier bleiben wir". Und seitdem gibt es eigentlich Ärger mit den Germanen/Deutschen. Der für einige Genossen recht beschwerliche Aufstieg auf den 459 Meter hohen Berg etwa 50 Kilometer nördlich von Prag sollte denn auch versinnbildlichen: Wir sind bereit zum Kampf.

Bereit zum Kampf für die nationalen Interessen ist auch die andere große Partei des Landes, die Bürgerlich-Demokratische Partei ODS von Vaclav Klaus. Ebenfalls an historischer Stätte gab der Parteivorsitzende selbst das Signal: Klaus eröffnete auf einer Wahlveranstaltung im nordböhmischen Liberec - dem früheren Reichenberg - ein weiteres Wahlkampf-Kapitel: Die ODS wählt die tschechischen nationalen Interessen. Klaus hatte zwar wenige Stunden vorher vom britischen Premier Tony Blair in Prag gehört, dass Tschechien keinerlei Gefahr drohe, auch nicht von der Diskussion über die so genannten Benes-Dekrete.

In Liberec warnte der Politiker trotzdem eindringlich: "Wir wehren uns gegen den Druck, die Nachkriegsordnung in Europa sowohl symbolisch als auch im Eigentums- und rechtlichen Bereich zu ändern, und zwar auf Kosten unseres Landes." Seine Partei habe dieses Thema nicht erst im Wahlkampf entdeckt, wies Klaus Vorwürfe zurück. "Das ist ein ewiges und ewig anstehendes Thema", machte der Politiker klar. Auf den Wahlzetteln der Partei werden auch jene benannt, die es mit den nationalen Interessen nicht so ernst meinen. "Mit großem Misstrauen verfolgen wir die typisch zweideutigen Erklärungen und Auftritte der Vertreter des Burg-Blocks (gemeint sind Präsident Havel und die Parteien der Koalition - Anm. d. Redaktion) und deren Verbündeten in den intellektuellen und journalistischen Kreisen. Begründet hegen wir Zweifel, dass diese Leute fähig und bereit sind, die ureigensten Interessen der Burger unseres Landes durchzusetzen", heißt es dort wörtlich. Paralellen zu Verlautbarungen aus der Zeit vor 1989 sind gewiss nicht zufällig.

Gegen die Intellektuellen und insbesondere gegen die Medien hatte schon Mitte vergangener Woche die Regierung ihre Geschütze aufgefahren. Der ansonsten als besonnen geltende Kulturminister Pavel Dostal ließ jegliche Zurückhaltung fallen und kritisierte die Medien des Landes, nicht zur Zufriedenheit der Regierung über die deutsch-tschechischen Beziehungen zu berichten. Dostal weiß auch warum, befanden sich doch die meisten Blätter fest in deutschen Händen. Deshalb bereite die Regierung für 2,5 Millionen Kronen die Herausgabe eines Bandes mit dem Titel "Die Sudeten - ein noch lebendiges Problem?" in einer Auflage von 40.000 Exemplaren vor. Zu den Autoren wurden namhafte tschechische Historiker gehören, darunter einer der intimsten Kenner der deutsch-tschechischen Beziehungen Jan Kren.

Der meldete sich umgehend zu Wort und lehnte seine Teilnahme an dieser "gut gemeinten Dummheit" ab. Weder in Tschechien und schon gar nicht im Ausland werde diese Publikation Vertrauen erwecken, vielmehr werde sie als bestellte Staatsgeschichte auf Ablehnung stoßen. Kren machte zudem seinem berechtigten Ärger Luft: der Minister hatte bei ihm vorher nicht einmal nachgefragt, ob er denn tatsächlich für diesen Band schreiben wolle. Kren dazu: "Das ist ein weiteres Beispiel der unerzogenen Arroganz der Politiker." Warum für eine derartige Publikation plötzlich Geld da sei, wunderte den Historiker. Liegt doch seit Monaten dem Schulminister ein seriöser Band über die Vertreibung vor, der für die Schulen bestimmt ist. Aber derartige Unstimmigkeiten sind für Dostal und Parteifreunde in Zeiten des Wahlkampfes Reibungsverluste, die in Kauf genommen werden. (...) (ykk)