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Tschechiens Politiker verstehen ihre Bürger nicht

21. März 2002

- Parteien wollen Wähler mobilisieren und greifen zum Thema Benes-Dekrete, das an der Masse der Bürger vorbeigeht

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Prag, 21.3.2002, PRAGER ZEITUNG, deutsch, Uwe Müller

Die gereizte und unnachgiebige Stimmung, mit der in Prag auf jede Äußerung bezüglich der Benes-Dekrete reagiert wird, sei nichts anderes als Wahlkampfrhetorik, heißt es in Berlin, in Brüssel und auch in Wien. Diese Feststellung soll glätten helfen. Meint sie doch: Die heutigen Äußerungen darf man nicht so ernst nehmen. Nach den Wahlen Mitte Juni 2002 kehren Sachverstand und Nüchternheit zurück. Eine auf den ersten Blick einleuchtende Meinung, zieht man Erfahrungen aus den neunziger Jahren hinzu. Die sudetendeutsche Karte einschließlich des Angstsyndroms vor den Deutschen wurde bei den Parlamentswahlen von 1992 gespielt, 1996 wieder. Allerdings stießen schon 1998 diesbezügliche Versuche auf eine nachlassende Resonanz bei den Wählern.

Daran haben sich die Wahlkampfstrategen der beiden großen Parteien - der Sozialdemokraten (CSSD) und der Bürgerlichen Demokraten (ODS) - wohl nicht gestoßen und in Ermangelung anderer Trumpfkarten genau dieses Thema neu entdeckt. In dem Glauben, damit die für beide gefährliche Viererkoalition im neuralgischsten Punkt zu treffen. Schließlich stellte sich heraus: Man wollte mit Kanonen auf Spatzen schießen. Die Viererkoalition löste sich selbst auf, noch bevor der harte Wahlkampf begonnen hatte. Ihre Spitzenpolitiker vermittelten das Bild eines zerstrittenen Häufleins.

Doch die Kanonen waren aufgefahren und Vaclav Klaus sowie Milos Zeman feuerten sie ab. Dass sie dabei gehörige Flurschäden in den Beziehungen zu den Nachbarn anrichten, scheint sie nicht zu stören. Einzig entscheidend ist, dass die Umfrage-Ergebnisse ihre Strategie bestätigen. Die Viererkoalition ist weit abgeschlagen, die Partei von Klaus führt vor den Sozialdemokraten. Der Wähler hat also reagiert.

Nur sind die aktuellen Ergebnisse wohl eine Folge des Zerfalls der Viererkoalition und der Abwanderung eines Teils der Wählerschaft zu den Konservativen. Denn die von Politikern wie Jan Zahradil oder Vaclav Klaus viel beschworene Angst der Tschechen um ihr Eigentum gibt es tatsächlich gar nicht. Die von der Agentur SC&C Mitte März durchgeführte und in der Tageszeitung "Mlada Fronta Dnes" veröffentlichte Umfrage belegt das: Über vier Fünftel der Befragten sehen in den Diskussionen über die Benes-Dekrete keinerlei Gefahren für ihr Eigentum. Berührungsängste gegenüber den Sudetendeutschen hat nur noch eine Minderheit. Eine absurde Situation: Die Parteien wollen Wähler mobilisieren und greifen zu einem Thema, das an der Masse der Bürger vorbeigeht.

Denn der Bürger ist längst mündig geworden und erwartet eine sachbezogene Politik. Den Missbrauch nationaler Gefühle und das bewusste Schüren von Ängsten und Animositäten gegenüber den Nachbarn könnte er nun bestrafen: Durch Abwählen. Leider fehlt eine überzeugende Alternative zu Sozialdemokraten und Bürgerlichen Demokraten.

Allerdings stimmt bedenklich, dass einige Politiker ihre Argumentation gewiss nicht als Wahlkampfrhetorik verstanden wissen wollen. Das Schwafeln von der Achse München-Wien-Budapest, das starrköpfige Beharren auf der Unantastbarkeit der umstrittenen Benes-Dekrete, gar noch die Forderung, diese vor einem Beitritt zur Europäischen Union als unantastbar sanktionieren zu lassen, signalisieren, dass dahinter mehr steckt, als in der Hitze des Gefechts geäußerte Unbedachtsamkeiten. Bei einem großen Teil der Bürger stößt das auf Unverständnis und Ablehnung. In Berlin, Wien und Brüssel sollte man das ernst nehmen und nicht nur glätten wollen. (ykk)