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Tschechiens sozialistische Nachwehen

31. Januar 2002

- Ambivalentes Verhältnis der Bevölkerung zur Kriminalität

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Prag, 31.1.2002, PRAGER ZEITUNG, deutsch, Martin Nerad

Die meisten Tschechen halten Kriminalität für das größte gesellschaftliche Problem des Landes. Die Themenfelder Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Umwelt rufen bei tschechischen Bürgern weitaus weniger Ängste hervor.

Dieses Umfrageergebnis eines tschechischen Meinungsforschungsinstituts, das Ende Dezember 2001 veröffentlicht wurde, hätte in vielen EU-Ländern weitreichende politische Konsequenzen. In Tschechien hat man dafür eher ein müdes Gähnen übrig. Weder Regierung noch Opposition können sich dazu durchringen, sich dieses Problemfeldes verantwortungsvoll anzunehmen. Die Sorge des Volkes um die eigene Sicherheit, die in den letzten zehn Jahren bereits zum x-ten Mal bekundet wurde, wird vom Staat noch immer stiefmütterlich behandelt.

Im sozialistischen Zeitalter musste die tschechische Bevölkerung mit einer jährlichen Kriminalitätsrate von rund 100.000 Straftaten fertig werden. Seit 1989 hat sich diese Zahl fast vervierfacht. Der rasante Anstieg schuf den Nährboden, auf dem die heutigen Ängste gedeihen. Ein Rückgang der Kriminalität von 391.469 gemeldeten Straftaten im Jahr 2000 auf 358.577 im Jahr 2001 scheint nichts an der Tatsache zu ändern, dass sich Tschechen nach wie vor in ihrem Land unsicher fühlen.

Die Kriminalität hat in Tschechien viele Gesichter: Wirtschaftskriminalität, Gewaltverbrechen, Einbruch in Häuser und Wohnungen, Taschendiebstahl, Autodiebstahl und Autoeinbruch zählen zu den häufigsten Straftaten, die das gesellschaftliche System destabilisieren und jährlich finanzielle Schäden in Milliardenhöhe nach sich ziehen.

Private Sicherheitsunternehmen nutzten nach 1989 die Gunst der Stunde und schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Sicherheit aller Bürger zu gewährleisten, ist jedoch eine der wichtigsten Verpflichtungen eines gut funktionierenden Staates. Vielerorts sind organisierte Mafiabanden aus dem Ausland, die nach 1989 nach Tschechien kamen, für die Straftaten verantwortlich. Aber nicht alle Delikte lassen sich unter den ausländischen Teppich kehren. So mancher Tscheche trug seinen Teil zur Erhöhung der Kriminalitätsrate bei.

Betrachtet man die Statistiken der Polizei der 90er Jahre, die den jährlichen Holzdiebstahl in Wäldern dokumentieren, so glaubt man sich an das Motto vergangener, sozialistischer Tage erinnert: "Wer nicht klaut, der beklaut die eigene Familie."

Natürlich kommen die Nachwehen des Sozialismus nicht nur im Wald zum Vorschein, sondern machen sich auch in Wirtschaft, Politik und staatlichen Institutionen bemerkbar. Wirtschaftskriminalität und Korruption sind die Folgen. Die kommunistische Vergangenheit hat somit in zweierlei Hinsicht Einfluss auf die momentane Kriminalitäts-Problematik: Zum einen hatte die Unterwerfung der Bürger erheblichen Einfluss auf das allgemeine Rechtsempfinden des Volkes - ein Umstand, den der Staatspräsident seit Jahren mit "fehlender Moral" umschreibt. Zum anderen ging das Vertrauen der Bürger in staatliche Institutionen verloren - einschließlich der Institutionen, die in einem Rechtsstaat die Sicherheit der Bürger gewährleisten sollten.

Das Zusammenwirken dieser beiden Kräfte scheint einer effektiven Kriminalitätsbekämpfung in Tschechien im Weg zu stehen. Denn eines steht fest: Weder eine Erhöhung der Polizeikräfte noch Finanzspritzen für Polizei oder andere staatliche Institutionen, die sich mit der Kriminalitätsbekämpfung auseinandersetzen, werden das Problem lösen können. Solange die tschechische Gesellschaft nicht geschlossen gegen die vorherrschende Kriminalität vorgeht, wird eine Beseitigung der Kriminalität nicht möglich sein, werden die Tschechen noch lange um ihre Sicherheit bangen. (ykk)